Wiesbaden – Vorübergehende oder auch länger anhaltende Beschwerden, etwa im Rücken, von einer der rund 100 „echten“ rheumatologischen Erkrankungen zu unterscheiden, ist selbst für Spezialisten nicht einfach.
„Entzündliche Erkrankungen des Bindegewebes, das alles im Körper durchzieht, können überall stattfinden – in Gelenken, Muskeln, Gefäßen, Organen“, erklärte Prof. Dr. Ulf Müller-Ladner, Lehrstuhl für Innere Medizin mit Schwerpunkt Rheumatologie, Justus-Liebig-Universität Gießen, Campus Kerckhoff, Bad Nauheim, auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) [1].
Komplizierte Suche nach Krankheitsindizien
Treten irgendwo im Körper Schmerzen oder Entzündungen auf, befinden sich Mediziner in einem „ständigen Spannungsfeld“ und müssen herausfinden, ob der Patient noch „gesund“ oder doch „rheuma-krank“ ist. Denn die Grenzen zwischen „normal und krank sind nicht festgelegt, sondern verschiebbar und für jede einzelne rheumatische Erkrankung ein bisschen anders“, sagte Müller-Ladner.
Besonders schwierig sei eine Abgrenzung bei „typischen“ Symptomen rheumatologischer oder systemisch-entzündlicher Erkrankungen – wie andauernde Gelenk- oder Muskelschmerzen, rezidivierende Fieberschübe oder zunehmender Leistungsverlust ohne Hinweis auf eine maligne Erkrankung oder Reaktion auf herkömmliche Schmerzmittel, bemerkte der Experte.
Um sich einer Diagnose anzunähern, werden Symptome meist mit Bildgebung und Laborwerten kombiniert – und ähnlich wie die Ermittler in einem „Tatort“ entwickeln die Mediziner aus einem Netzwerk an „Indizien“ die richtige Fährte zum „Täter“, in dem Fall also zur Erkrankung.
„Die rheumatologisch-immunologische Indiziensuche wird oft noch dadurch kompliziert, dass einzelne oder mehrere Laborparameter gemessen werden und – vergleichbar einem Kriminalfall – auf den Täter zuführen können, aber alle Beteiligten auch auf eine falsche Fährte locken können“, sagte Müller-Ladner. „Sie müssen den Täter benennen, um ihn zu verhaften und wegzusperren, damit er keinen Ärger mehr macht.“
Laborparameter – wegweisend oder irreführend
Laborparameter, sagte Müller-Ladner, können auf der einen Seite wegweisend, auf der anderen auch irreführend sein; deren richtige Einschätzung sei daher unabdingbar in der Diagnosefindung. Anhand zahlreicher Beispiele erläuterte der Rheumatologe das Dilemma der Mediziner auf der Suche nach Indizien, die auf eine rheumatologische Erkrankung hinweisen.
„Ein positiver Rheumafaktor in Kombination mit einer kurzzeitigen Oligoarthritis nach viralem Infekt ist mit Sicherheit keine rheumatoide Arthritis. Tief sitzende morgendliche Kreuzschmerzen in Kombination mit einem positiven HLA-B27 dagegen erlauben die Diagnose einer rheumatologischen Erkrankung als entzündlicher Rückenschmerz, des Initialstadiums eines Morbus Bechterew“, erklärte der Rheumatologe.
„Ein positiver ANA-Titer bei einer jungen Frau mit leichten Hautrötungen nach Sonnenexposition heißt nicht, dass automatisch ein systemischer Lupus erythematodes vorliegt. Mehrere Fehlgeburten in Kombination mit positiven Cardiolipin-Antikörpern bedeuten dagegen ein Antiphospholipidsyndrom, das möglicherweise das komplette weitere Leben bestimmt“, sagte Müller-Ladner.
Das Problem: Häufig dauere die Diagnose einer rheumatischen Erkrankung lange. Jedoch gelte für viele dieser Beschwerden, insbesondere für entzündlich-rheumatische Erkrankungen wie die rheumatoide Arthritis, die Prämisse „Zeit ist Gelenk“ – sprich, je früher die Erkrankung diagnostiziert und die Behandlung eingesetzt werde, desto wahrscheinlicher verzögern sich Gelenksversteifungen und können irreparable Schäden verhindert werden.
Kriterien für „In-Label“-Behandlung oft nicht erfüllt
Das Dilemma, so Müller-Ladner, gehe bei der Therapie rheumatischer Erkrankungen noch weiter: Denn nur dann, wenn die Diagnose nach bestimmten Kriterien gestellt werde, können bestimmte Medikamente innerhalb der Zulassung verschrieben werden.
Nicht selten könne eines der „hoch-effektiven, speziellen Medikamente, die zu einer Langzeit-Remission führen können und nicht ganz günstig sind“, das zwar für eine bestimmte rheumatische Erkrankung zugelassen sei, einem Patienten nicht „in-label“ verschrieben werden, da nicht alle für den Nachweis der Erkrankung notwendigen Kriterien nachgewiesen werden können.
Ein solches Kriterium sei beispielsweise eine mittels MRT nachgewiesene symmetrische Carpus-Arthritis als sehr sichere Frühform der rheumatoiden Arthritis. Dann stehe der Behandler vor dem Problem, „den Patienten nach wissenschaftlich begründetem State-of-the-art-Wissen zu behandeln und die Gelenke und die Arbeitsfähigkeit langfristig zu schützen, „in-label“ aber kein einziges zugelassenes Medikament hierzu zur Verfügung hat“.
Ziel: Frühzeitig behandeln, um Dauerschäden abzuwenden
Die einzige Möglichkeit, „normale“ Muskel- oder Gelenkschmerzen von einer rheumatischen Erkrankung abzugrenzen und für letztere eine passende Behandlung zu finden, sieht Müller-Ladner darin, „alle Symptome, die auf eine rheumatologische Erkrankung hindeuten, mit den aktuellen Klassifikationskriterien der verschiedenen Entitäten regelhaft zu prüfen“ und neue oder veränderte Symptome, ob nun für die jeweilige Indikation „passend“ oder nicht, ebenso regelhaft mit einzubringen.
Dafür seien Kooperationen zwischen unterschiedlichen Fachrichtungen zum Austausch von Expertise, etwa zwischen Internisten und Rheumatologen oder Rheumatologen und Nephrologen, notwendig, „um das Optimale für den Patienten zu erreichen“.
Durch neue Erkenntnisse, etwa aus klinischen Studien, werden Klassifizierungen für einzelne rheumatologische Erkrankungen international angepasst, wie das etwa bei den Kriterien für die systemische Sklerose der Fall war, erklärte Müller-Ladner. Früher habe es für diese seltene chronische Erkrankung 4 bis 5 Kriterien gegeben; heute seien es mindestens 10. Ähnlich verhalte es sich beim systemischen Lupus, sodass die Vielfalt und Variabilität der Erkrankungen in den Kriterien abgebildet werde.
„Aufgabe für die Zukunft wird sein, die aktuellen Klassifikationskriterien durch neue Erkenntnisse so zu modifizieren, dass die ‚behandlungsbedürftigen‘ Erkrankungen tatsächlich im Sinne der betroffenen Patienten in einem Stadium behandelt werden können, in dem sich Dauerschäden verhindern lassen“, forderte Müller-Ladner.
Credits:
Lead Image: Chirawan SomsanukDreamstime
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Diesen Artikel so zitieren: Hat er „Rücken“ oder Rheuma? Indizien-Suche ist bei entzündlichem Leiden auch für Experten schwierig – so könnte es gelingen - Medscape - 9. Mai 2022.
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