Kardiovaskuläre Primärprävention mit ASS: US-Experten rudern zurück – „geringer Nettonutzen“, trotzdem Empfehlung für einige Gruppen

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

12. Mai 2022

Die US Preventive Services Task Force (USPSTF) hat ihre Empfehlungen zur Primärprävention von kardiovaskulären Erkrankungen mit Acetylsalicylsäure (ASS) aktualisiert. Die tägliche Einnahme einer niedrig dosierten ASS-Tablette soll nur noch bei Erwachsenen im Alter von 40 bis 59 Jahren mit einem kardiovaskulären 10-Jahres-Risiko über 10% in Erwägung gezogen werden [19].

Ab dem 60. Lebensjahr rät die USPSTF aufgrund eines ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses von einer Primärprävention mit ASS ab. Eine zuvor begonnene ASS-Therapie könne jedoch bis zum Alter von 75 Jahren fortgesetzt werden. 

Kein Schutz vor Darmkrebs

Basierend auf neuen Studienergebnissen kommt die USPSTF außerdem zu dem Schluss, dass es nicht mehr ausreichend Evidenz dafür gibt, dass ASS potenziell vor kolorektalen Karzinome schützen könnte.

Prof. Dr. Ulrich Laufs

„Die Datenlage zur Primärprävention kardiovaskulärer Ereignisse wurde in den USA und Europa schon immer ein wenig unterschiedlich interpretiert“, sagt Prof. Dr. Ulrich Laufs, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kardiologie am Universitätsklinikum Leipzig, im Gespräch mit Medscape

Tägliche ASS-Tablette in den USA populärer

„Die Amerikaner sind der täglichen Aspirintablette gegenüber traditionell sehr aufgeschlossen. Hinzu kam die Vorstellung, mit ASS kolorektale Karzinome positiv beeinflussen zu können, dass haben deutsche und europäische Fachgesellschaften in dieser Form nie empfohlen“, ergänzt Laufs.

In Europa stellte die European Society of Cardiology bereits 2016 klar, dass eine Antiplättchentherapie bei Patienten ohne kardiovaskuläre Vorerkrankung nicht indiziert ist. Hintergrund dieser 3b-Empfehlung waren die Analysen der Antithrombotic Treatment Trialists (ATT). Sie zeigten für Patienten im niedrigeren kardiovaskulären Risikobereich – bei gleichem Blutungsrisiko – einen viel geringeren Benefit auf als bei Hochrisikopatienten.

 
Die Amerikaner sind der täglichen Aspirintablette gegenüber traditionell sehr aufgeschlossen. Prof. Dr. Ulrich Laufs
 

2016: Empfehlung noch für alle mit erhöhtem Risiko

Auch die USPSTF schränkte ihre Empfehlung 2016 ein. Sie empfahl die Primärprävention mit ASS aber weiterhin für Personen mit einem kardiovaskulären 10-Jahres-Risiko von mindestens 10%. Voraussetzung war eine Lebenserwartung von mindestens 10 Jahren und kein erhöhtes Blutungsrisiko. 

In den Empfehlungen von 2016 erwähnte die USPSTF auch erstmals, dass ASS einen Nutzen für die Prävention von kolorektalen Karzinomen haben könnte.

Datenlage für ASS-Prophylaxe wurde zusehends schlechter

In den Folgejahren verschlechterte sich die Datenlage für eine Primärprävention mit ASS zunehmend: „2018 und 2019 erschienen 3 große neue Studien, die Patienten mit moderatem Risiko (ARRIVE), Patienten mit Diabetes (ASCEND) und ältere Patienten (ASPREE) untersuchten, die alle neutral ausfielen“, berichtet Laufs. 

Eine Metaanalyse von 13 Studien, die 2019 im JAMA erschien und mehr als 1 Million Patientenjahre überblickte, zeigte, dass niedrig dosiertes ASS bei Personen ohne kardiovaskuläre Vorerkrankung mit einem um 11% reduzierten Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis assoziiert war. Das Blutungsrisiko war um 43% erhöht.

„Die Metaanalyse kam in diesem Risikobereich auf eine Number-needed-to-treat (NNT) von 241 und eine Number-needed-to-harm (NNH) von 210 – das ist kein gutes Verhältnis. Damit waren die europäischen Leitlinien bestätigt“, so Laufs.

2022: Beginn der ASS-Einnahme spätestens mit 59

Mit ihren neuen Empfehlungen zieht die USPSTF nun teilweise nach und beurteilt das Risiko-Nutzen-Verhältnis der Primärprävention mit ASS ebenfalls deutlich kritischer: Liegt keine kardiovaskuläre Vorerkrankung vor, soll bei Personen über 60 Jahren nicht mit einer präventiven ASS-Therapie begonnen werden.

In der Altersgruppe von 40 bis 59 Jahren kann den neuen Empfehlungen zufolge eine Primärprävention mit ASS erwogen werden, wenn das kardiovaskuläre 10-Jahres über 10% liegt. Allerdings weist die USPSTF darauf hin, dass auch in dieser Personengruppe der Nettonutzen der Therapie wahrscheinlich gering ist. Wird eine ASS-Therapie begonnen, kann sie bis zu einem Alter von 75 Jahren fortgeführt werden.

Kardiovaskulärer Vorteil, aber erhöhtes Blutungsrisiko

Den aktuellen Empfehlungen der USPSTF liegt ein ebenfalls aktualisierter Evidenzreport zugrunde, der 11 randomisiert-kontrollierte Studien mit 134.470 Teilnehmern und eine Pilotstudie mit 400 Teilnehmern umfasst. Die Ergebnisse waren mit der Metaanalyse von 13 Studien aus 2019 vergleichbar. Primärpräventiv eingenommenes ASS war mit einer signifikanten Abnahme kardiovaskulärer Ereignisse um 10% und einer signifikanten Zunahme von Blutungen um 44% assoziiert. 

Zum Nutzen bei der Vorbeugung kolorektaler Karzinome gab es nur wenig Evidenz. Die Ergebnisse variierten in Abhängigkeit von der Dauer der Nachbeobachtung stark. Signifikant wurden sie nur, wenn die Patienten noch lang über die randomisiert-kontrollierten Phasen der Studien hinaus weiter nachbeobachtet wurden.

Individuelle Beratung muss Patientenwunsch berücksichtigen

„Wir haben hier geringe Therapieeffekte, die gegen ein erhöhtes Blutungsrisiko abgewogen werden müssen“, sagte Laufs. „Der Patientenwunsch spielt hier eine wichtige Rolle.“ 

Eindeutig sei letztlich nur, dass Patienten, die schon eine kardiovaskuläre Erkrankung hatten, von ASS profitieren, und dass Personen mit einem 10-Jahres-Risiko unter 10% sicher nicht profitieren. Dazwischen befinde sich ein Graubereich, der eine individuelle Beratung und Abwägung von Nutzen und Risiko erfordere.

 
Der Patientenwunsch spielt hier eine wichtige Rolle. Prof. Dr. Ulrich Laufs
 

Statine möglicherweise die bessere Wahl

Allerdings gehe es in der Beratung üblicherweise nicht um die Frage nach einer Primärprävention mit ASS, sondern darum, ob überhaupt eine medikamentöse Prophylaxe durchgeführt werden sollte, so Laufs. „Wird diese Frage mit ja beantwortet, ist die Datenlage für Statine bei einem kardiovaskulären 10-Jahres-Risiko über 10% wesentlich besser als für ASS.“

 
Die Datenlage für Statine ist bei einem kardiovaskulären 10-Jahres-Risiko über 10% wesentlich besser als für ASS. Prof. Dr. Ulrich Laufs
 

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....