Bei immungeschwächten Patienten kann eine SARS-CoV-2-Infektion bis zu 505 Tage persistieren. Dies zeigen die Daten eines Patienten, dessen COVID-19-Infektion die bislang längste jemals registrierte ist.
Der immungeschwächte Patient, der ursprünglich mit einer Prä-Alpha-Variante (höchstwahrscheinlich der ursprünglichen Wuhan-Variante) infiziert war, wurde über insgesamt 505 Tage positiv getestet, bevor er starb. Vor diesem Patienten betrug die längste durch PCR bestätigte persistierende SARS-CoV-2-Infektion 335 Tage.
Dr. Luke Blagdon Snell vom Guy's and St Thomas' NHS Foundation Trust in London leitete diese britische Studie zur Evolution des Virus und stellte die Ergebnisse auf dem European Congress of Clinical Microbiology & Infectious Diseases (ECCMID) 2022 in Lissabon vor [1].
„Stark immungeschwächte Personen, bei denen das Risiko einer anhaltenden SARS-CoV-2-Infektion besteht, müssen wir regelmäßig und häufig testen“, sagte Snell in einem Interview mit Medscape. „Dies gilt vor allem, wenn wir wissen, dass sie eine Infektion hatten und diese abgeklungen ist. Außerdem ist bei diesen Patienten ein schlechteres Outcome wahrscheinlicher, und ein erheblicher Teil von ihnen stirbt, was wahrscheinlich der Kombination aus Grunderkrankung und COVID-19 geschuldet ist.“
In Bezug auf die klinische Behandlung dieser Patienten fügte Snell hinzu: „Aus unserer Sicht sollte versucht werden, die persistierende Infektion bei den Patienten zu beseitigen, aber im Moment besitzen wir dafür keine geeigneten Strategien.“
Eine Strategie sei jedoch für immungeschwächte Patienten mit persistierenden SARS-CoV-2-Infektionen dringend erforderlich, „zumal die aktuelle BA2-Variante nicht auf die in Großbritannien zugelassenen Antikörpertherapien anspricht. Jede Strategie wird höchstwahrscheinlich mehrere Therapien umfassen müssen, darunter antivirale Mittel und monoklonale Antikörper.“
Snell wies darauf hin, dass dies nicht nur dem einzelnen Patienten zugutekäme, sondern auch die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten neuer Varianten verringern könnte.
Virusentwicklung und Entstehung von Mutationen
In der Studie wurde auch untersucht, welche Mutationen entstehen und ob sich SARS-CoV-2-Varianten bei immungeschwächten Patienten mit persistierenden Infektionen entwickeln können.
SARS-CoV-2 ist ein neues Virus, das erst Ende 2019 vom Tier auf den Menschen übergegangen ist und sich daher noch an den menschlichen Wirt anpassen muss. „Persistierende Infektionen sind eine Möglichkeit, solche evolutionären Anpassungen dieses Virus zu untersuchen“, so Snell.
Die Patienten, die zwischen März 2020 und Dezember 2021 untersucht wurden (also von der Wuhan-Form über die Alpha- bis zur Delta-Variante), wiesen alle aufgrund von Organtransplantationen, HIV, Krebs, Chemotherapien oder biologischen Antikörpertherapien im Zusammenhang mit ihren Grunderkrankungen eine Schwächung ihres Immunsystems auf.
Die meisten Patienten wurden im Guy's and St Thomas' Hospital in London klinisch betreut, wo sie sich bei ihren Aufenthalten SARS-CoV-2-Tests unterzogen. Die Viren wurden vollständig gensequenziert und auf seltene Varianten untersucht.
Einzigartige und über die Zeit gleichbleibende genetische Signatur
Die 9 Patienten der Studie wurden mindestens 8 Wochen lang positiv auf das Virus getestet. Die Infektionen hielten durchschnittlich 73 Tage an. Bei 2 Patienten erstreckten sie sich jedoch über ein Jahr. „Wir wussten, dass es sich um keine Reinfektion handelte, weil die genetische Signatur des Virus bei jedem Patienten einzigartig ist und über die Zeit hinweg gleichblieb“, erklärte Snell.
Etwa 30 bis 50% der Studienpatienten waren asymptomatisch. Bei den anderen wurde COVID-19 hingegen als wesentlicher Faktor für den Tod ausgemacht. 4 der 9 Patienten starben. „Es ist jedoch schwer zu sagen, welchen Anteil das persistierende Virus angesichts ihrer Grunderkrankung an ihrem Tod hatte“, sagte Snell.
5 der 9 Patienten entwickelten mindestens eine Mutation, die in besorgniserregenden Varianten vorkommt. Einige entwickelten mehrere Mutationen, die mit bedenklichen Varianten assoziiert sind, wie z.B. Alpha-, Delta- und Omikron-Varianten. Das Virus einer Person enthielt jedoch 10 Mutationen, die separat in den Alpha-, Gamma- und Omikron-Varianten aufgetreten sind.
Von den 5 überlebenden Patienten konnten 2 die SARS-CoV-2-Infektion ohne Behandlung überwinden. Bei 2 weiteren Patienten konnte die Infektion nach einer Antikörpertherapie und dem Einsatz antiviraler Mittel bezwungen werden.
Bei einer Person besteht die Infektion weiterhin. Hier dauerte die Infektion bei der letzten Nachuntersuchung (Anfang 2022) bereits 412 Tage an. Der Patient hat monoklonale Antikörper erhalten, doch wenn er bei der nächsten Nachuntersuchung weiterhin SARS-CoV-2-positiv sein sollte, wird er den Rekordwert von bisher 505 Tagen übertroffen haben.
Varianten bei Immunschwäche
Obwohl Mutationen, die in besorgniserregenden Varianten vorkommen, auch bei den Viren der Studienpatienten nachgewiesen wurden, entwickelte sich aus keiner dieser Varianten eine der bekannten pandemischen Formen.
Snell erläuterte die Entstehung von Varianten. Sie würden durch Evolution entstehen und können leichter übertragbar sein (z.B. Omikron), virulenter sein (z.B. Alpha) oder eine Escape-Variante darstellen (Omikron). Er führte zudem 3 mögliche Erklärungen für das Auftreten von Varianten an und ergänzte, dass diese sich nicht gegenseitig ausschließen würden:
„Erstens akkumulieren Mutationen allmählich während der Übertragung zwischen Menschen in der Gemeinschaft.
Zweitens besteht bei einer Person mit stark geschwächtem Immunsystem und persistierender Infektion die Möglichkeit, dass Mutationen entstehen, da sich das Virus weiter repliziert und mit der Zeit eine Selektion für bestimmte Mutationen stattfindet.
Drittens können Varianten durch artübergreifende Infektionen entstehen, wie etwa bei dem Ausbruch, den wir vor einiger Zeit in Dänemark zwischen Menschen und Nerzen hatten.“
Nicht bekannt sei, ob besorgniserregende Varianten wie Alpha und Delta durch eine persistierende Infektion oder auf andere Weise entstanden sind. Er betonte, dass die Evidenzen schwach seien, aber es gebe Hinweise darauf, dass sich die Alpha-Variante in einem immungeschwächten Patienten mit persistierender Infektion entwickelt haben könnte.
„Die Alpha-Variante trat plötzlich in Kent auf, wo jede Menge Gensequenzierungen stattfanden. Dieses Ereignis scheint weniger die Folge der Mutationsentstehung in einer Übertragungskette zu sein, sondern eher mit der Entwicklung innerhalb eines Individuums zusammenzuhängen.“
Es sei jedoch wichtig zu beachten, dass eine Häufung von Mutationen nicht automatisch bedeute, dass die Variante auch übertragbar sei.
Einer der ersten Fälle einer okkulten Virusinfektion
In der Studie wird auch berichtet, dass einer der 9 Fälle einer der ersten einer okkulten COVID-19-Infektion sei, die bisher nachgewiesen wurden. „Von einer okkulten Infektion spricht man, wenn eine nach Tests mutmaßlich virenfreie Person im Nachhinein doch eine persistierende Infektion mit demselben Virus hat“, erklärte Snell.
Eine ähnliche Situation wurde für Ebola und Hepatitis B beschrieben. Snell wies darauf hin, dass dies anders als bei Long-COVID sei, wo man im Allgemeinen davon ausgeht, dass das Virus aus dem Körper verschwunden ist, während die Symptome fortbestehen.
„Wenn es eine okkulte Infektion gibt – und das ist durchaus umstritten –, dann stellen diese Patienten höchstwahrscheinlich eine Untergruppe von Personen mit persistierender Infektion dar, bei denen das Virus zwar irgendwo im Körper ist, aber unbemerkt bleibt, weil der Patient asymptomatisch ist.“
Die Patienten in der Studie waren symptomatisch und wurden vor ihrer Genesung positiv auf COVID-19 getestet. Später wurden sie mehrfach negativ getestet, bevor sie dann einige Monate später erneut COVID-19-Symptome entwickelten. „Ein PCR-Test war positiv, und die Genomsequenzierung des Virus zu diesem Zeitpunkt belegte, dass die Infektion durch die Alpha-Variante verursacht wurde, die jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits aus Großbritannien verschwunden war. Das deutet darauf hin, dass das Virus nach wie vor seit der Erstinfektion im Körper existent war, aber unentdeckt geblieben war“, erklärte Snell.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.co.uk übersetzt und adaptiert.
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Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Neuer „Rekord“: Immungeschwächter Patient war 505 Tage lang mit COVID-19 infiziert - Medscape - 10. Mai 2022.
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