Welcher Krebspatient hat Priorität? Neue S1-Leitlinie schlägt Kriterien vor, weil Versorgung durch Pandemie geschwächt ist

Christian Beneker

Interessenkonflikte

4. Mai 2022

Um es vorweg zu nehmen: Bisher gab es in den Krankenhäusern nur sehr vereinzelt Engpässe in der Versorgung von Krebspatienten, weil COVID-Patienten die Behandlungsmöglichkeiten für Krebspatienten blockiert hätten. Aber die Deutsche Krebsgesellschaft fürchtet, dass sich derzeit eine Bugwelle von zukünftigen Krebspatientinnen und -patienten aufbauen könnte, die wegen der Corona-Pandemie den Gang zur Krebsfrüherkennung gescheut haben. So könnte es womöglich zu Versorgungsengpässen unter anderem in den Krankenhäusern kommen.

 
Das handlungsleitende ethische Prinzip im Falle notwendiger Priorisierungsentscheidungen ist, dass der mögliche Schaden minimiert wird. Prof. Dr. Jan Schildmann
 

Eine neue S1-Leitlinie zur Priorisierung von Krebspatientinnen und -patienten mit gastrointestinalen Tumoren soll den behandelnden Ärzten nun helfen, im Zweifelsfall die Krebsbehandlung für eine begrenzte Zeit zu priorisieren und eine abgestufte Behandlung zu initiieren [1].

Schadensminderung als handlungsleitendes Prinzip

Als Kriterien schlagen die Autoren zum Beispiel die Dringlichkeit der Behandlung eines Krebspatienten vor oder die Verfügbarkeit alternativer Behandlungen. „Das handlungsleitende ethische Prinzip im Falle notwendiger Priorisierungsentscheidungen ist, dass der mögliche Schaden minimiert wird“, erklärt der Projektkoordinator Prof. Dr. Jan Schildmann, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

 
Die Bewertung einer Dringlichkeit kann also sowohl aufgrund des möglichen Schadens für die Lebenszeit als auch für die Lebensqualität oder beiden Kriterien erfolgen. Prof. Dr. Jan Schildmann
 

Die Handlungsempfehlungen beziehen sich auf Patienten mit Darm- und Bauchspeicheldrüsenkrebs. „Die Angaben zur Priorisierung gelten ausschließlich innerhalb der beiden genannten Patientinnen- und Patientengruppen“, so Schildmann zu Medscape. „Auf der Grundlage der Leitlinie kann also nicht zwischen den beiden Patientengruppen priorisiert werden. Es können mit der Leitlinie auch nicht Patientinnen und Patienten mit Krebserkrankungen gegenüber anderen Patienten priorisiert werden.“

In der Debatte über die Verteilung knapper Ressourcen werden der Zufallsentscheid oder das „First-come-first-served-Prinzip“ häufig als mögliche Alternativen der Schadenminderung vorgeschlagen, wenn die Mittel knapp werden. Auch diese Alternativen wurden geprüft, erklärt Schildmann. Allerdings würden dann im Falle einer Versorgungsknappheit auch Menschen behandelt, „die sonst keinen oder einen geringen Schaden erleiden würden“, erklärt Schildmann. Damit würde sich sowohl der aggregierte als auch der individuelle Schaden für erkrankte Menschen vergrößern.

Woran allerdings der Schaden gemessen wird, gibt die Leitlinie nicht vor. Schildmann: „Die Bewertung einer Dringlichkeit kann also sowohl aufgrund des möglichen Schadens für die Lebenszeit als auch für die Lebensqualität oder beiden Kriterien erfolgen.“

 
Grundsätzlich war die onkologische Therapie in Deutschland während der COVID-19-Pandemie bisher gesichert. Gerd Nettekoven
 

Erarbeitet haben diese Leitlinie u.a. die Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie (AIO) in der Deutschen Krebsgesellschaft e. V., die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e. V. (DGHO) in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern des CancerCOVID Verbundes. Sie gilt zunächst für ein Jahr.

Das Versorgungssystem ist spürbar gestresst

Die Leitlinie trifft auf eine wahrscheinlich bald veränderte Versorgungssituation von Krebspatientinnen und -patienten. „Grundsätzlich war die onkologische Therapie in Deutschland während der COVID-19-Pandemie bisher gesichert, und wir konnten keine bedrohlichen Versorgungsengpässe für Krebspatientinnen und -patienten feststellen“, erklärt Gerd Nettekoven, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Krebshilfe. „Doch wir erkennen inzwischen auch, dass das Versorgungssystem spürbar gestresst ist und die Einschränkungen aufgrund der Krisensituation negative Auswirkungen für Krebspatienten haben können.“

 
Doch wir erkennen inzwischen auch, dass das Versorgungssystem spürbar gestresst ist. Gerd Nettekoven
 

So hat die gemeinsame „Taskforce“ des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), der Deutschen Krebshilfe und der Deutschen Krebsgesellschaft Schwächen in der Versorgung von Krebspatienten im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie festgestellt. So wurden Behandlungen verkürzt oder verschoben, Nachsorgeuntersuchungen ausgesetzt oder Abklärungen und Früherkennungsuntersuchungen versäumt. Die Taskforce ermittelt die Daten wöchentlich von 18 Krebsforschungszentren im Land.

Die Autoren der neuen Leitlinie gehen denn auch von einem kommenden Mehrbedarf an Diagnostik und Therapie bei Krebspatientinnen und -patienten aus, weil während der Corona-Pandemie seltener Krebs diagnostiziert wurde als vor der Pandemie.

Ärztinnen und Ärzte, die mit Krebspatienten arbeiten, „müssen daher immer wieder Entscheidungen über die Zuteilung von vorhandenen Betten, Personal und anderen Ressourcen treffen“, hieß es, „wohlinformiert, transparent und fair.“
 

Kommentar

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