MEINUNG

Fall: Ein junger Mann mit plötzlicher Niereninsuffizienz – welche Rolle spielt ein weißes Pulver am Arbeitsplatz? 

Redaktion: Marie Fahrenhold

Interessenkonflikte

5. Mai 2022

Bei einem Mann ohne bekannte Vorerkrankungen entdecken Ärzte zufällig ein hereditäres Phäochromozytom/Paragangliom. Doch der Patient hat noch weitere nephrologische Defekte. Wie gehen Sie vor? 

Der rätselhafte Krankheitsverlauf bei einem jungen Mann ohne bekannte Vorerkrankungen bereitet einem Ärzteteam aus Bielefeld monatelang Kopfschmerzen. Scheinbar aus heiterem Himmel entwickelt sich bei ihm eine Niereninsuffizienz. Erst als der Patient über ein weißes Pulver berichtet, das er gelegentlich auf seinem Pausenbrot findet, kommen Ärzte der Diagnose näher.

Der Artikel basiert auf einem Vortrag von Dr. Mariam Abu-Tair, Abteilung für Nephrologie und Diabetologie am Evangelischen Klinikum Bethel, Bielefeld, auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e.V. 2022 [1]

Körperliche und apparative Untersuchungen 

Zum Hintergrund: Der Patient, Jahrgang 1991, wurde von seinem Hausarzt aufgrund einer per Zufall diagnostizierten akuten Niereninsuffizienz unklarer Genese an Dr. Mariam Abu-Tair von der Abteilung für Nephrologie und Diabetologie am Evangelischen Klinikum Bethel, Bielefeld, überwiesen.

Der damals 25-Jährige beschrieb ein allgemeines Unwohlsein. „Er ist tatsächlich immer sehr blass gewesen“, berichtet Abu-Tair. So richtig geklagt habe er aber zunächst nicht.

Die vitalen Parameter bei der Aufnahme waren ein leicht erhöhter Blutdruck (156/95 mmHg), normale Temperatur, unauffällige Herzfrequenz, Atemfrequenz und Sauerstoffsättigung. Die körperliche Untersuchung war komplett unauffällig. 

Im Labor zeigten sich folgende Werte:

  • eine diskrete Leukozytose (Leukos 13/nl),

  • ein für einen jungen Mann normaler Hämoglobin-Wert (Hb 14,4 g/dl),

  • eine normale Thrombozytenzahl (365/nl),

  • ein leicht erhöhter Kreatinin-Wert (2,45 mg/dl),

  • normale Harnstoff-Werte (77 mg/dl),

  • eine ausgeglichene Blutgasanalyse (BGA) – also hatte keine metabolische Azidose, wie man sie laut Abu-Tair bei einem akuten Nierenversagen prinzipiell durchaus erwarten könnte,

  • ein normaler Serum-Kaliumspiegel (3,69 mmol/l).

Eine Nierenbiopsie führt Ärzte auf die Spur

Aufgrund des leicht erhöhten Kreatinin-Wertes entschied sich das Team um Abu-Tair zügig für eine Nierenbiopsie. Dieses Vorgehen stieß im interaktiven Chat des DGIM-Auditoriums die Frage an, ob denn bei einem einmal leicht erhöhten Kreatinin-Wert immer gleich direkt in die Nieren hineingestochen werden sollte oder man nicht zunächst den weiteren Kreatinin-Verlauf abwarten könne.

Die Referentin betont daraufhin ausdrücklich, dass der Kreatinin-Wert nicht linear zur Nierenfunktion laufe – je höher das Kreatinin, desto schlechter die Nierenfunktion. Vielmehr entspreche bereits ein leicht erhöhter Kreatinin-Wert von 2,45 mg/dl einer hochgradig eingeschränkten Nierenfunktion, insbesondere bei einem so jungen Mann. „Dementsprechend hatte der Patient eine absolute Indikation, in diese Niere hineineinzustechen“, sagte sie. 

Als generelle Indikationen für eine Nierenbiosie nennt die Nephrologin:

  • unklares Nierenversagen,

  • glomeruläre Erythrozyturie und Proteinurie,

  • Proteinurie > 1 g trotz optimierter antiproteinurischer Therapie,

  • die Suche nach renaler Manifestation einer Systemerkrankung.

Neben der Nierenbiopsie wurden Anamnese und Bildgebung (MRT des Abdomens) erweitert und eine Urinuntersuchung durchgeführt.

Erweiterte Anamnese ergab Magenbeschwerden

„In der Urinuntersuchung war tatsächlich nichts gewesen“, berichtet die Ärztin. Der Patient habe einen völlig unauffälligen Urinstatus gehabt, keine Proteinurie. „Das ist dann immer der Fall, bei dem man beispielsweise an eine interstitielle Nephritis denken muss und deswegen immer auch an eine erweiterte Medikamentenanamnese.“

Im Rahmen einer erneuten Anamnese berichtete der Patient, immer wieder aufgrund von Magenbeschwerden Pantoprazol sowie seit mehreren Wochen Muskelaufbaupräparate einzunehmen, was die Ärzte zunächst auch nicht vorangebracht hat. 

Screening auf Phäochromozytom

Die Nierenbiopsie ergab eine mäßiggradige Nephrosklerose mit einem multifokalen chronifizierenden und chronischem tubulointerstitiellen Schaden.

Abdomensonographisch zeigte sich beidseits in den Nieren ein gering verdichtetes Parenchym mit betonten Markpyramiden – adäquat zum akuten Nierenversagen – sowie eine Raumforderung von 2,3 cm × 1,7 cm paraaortal und dorsal des Pankreas.

Aufgrund des erhöhten Blutdrucks bei einem jungen Mann sei zudem dringend eine sekundäre Hypertonie-Abklärung wichtig gewesen, berichtet Abu-Tair weiter. Bei jungen Hypertonikern (< 30 Jahre) sollte daher auf ein Phäochromozytom gescreent werden. Auch die ungeklärte Raumforderung (Inzidentalom?) könne auf ein Phäochromozytom hinweisen. Leitsymptome eines Phäochromozytom umfassen neben einem hohen Blutdruck (krisenhaft oder kontinuierlich) auch Herzklopfen und Herzjagen, Schweißausbrüche und innere Unruhe, Schlafstörungen sowie ein generelles Unwohlsein.

Enddiagnose Paragangliom?

Eine entsprechende Diagnostik hatte eine deutliche Erhöhung der Normetanephrine in Plasma und Urin ergeben – wobei die Urinuntersuchung laut Abu-Tair heutzutage nicht mehr nötig ist, sondern prinzipiell eine Plasmabestimmung ausreicht.

Eine anschließende MIBG-Szintigraphie, also eine nuklearmedizinische Untersuchung, die noradrenerge Gewebe darstellt, zeigte plötzlich eine Auffälligkeit im Thorax. Die Region, in der die Raumforderung lokalisiert war, war dagegen unauffällig.

Sowohl der Thorax- als auch der Abdominalbefund wurden operativ (etappenweise) entfernt – in beiden Fällen ergab die histologische Untersuchung ein Paragangliom. Daraufhin konnte die vermeintliche Enddiagnose hereditäres Phäochromozytom/Paragangliom-Syndrome mit einer SDHD-Mutation (paternale Transmission) gestellt werden.

Erkrankung mit unklarem Auslöser

„Aber was machen wir jetzt mit der Niere?“ Diese Frage stellte Abu-Tair ihren Zuhörerinnen und Zuhörern, die wie folgt abgestimmt haben:

  • weitere Ursachenforschung: 58%

  • Pantoprazol weglassen, keine Muskelaufbaupräparate: 38%

  • Abklärung, ob die Niere wegen der Hypertonie geschädigt worden ist: 4%

  • Prednisolontherapie zur Behandlung der Nephritis: 0%

  • Verlaufskontrollen beim Hausarzt: 0%

„Verlaufskontrollen ja, Hausarzt nein“, kommentierte die Ärztin den zuletzt aufgelisteten Punkt. „Patienten, die ein Nierenversagen haben, gehören unbedingt in nephrologische Hände!“ Selbstverständlich werde der Hausarzt dringend mit im Boot genommen, da viele weitere Parameter überwacht werden müssten. Ein Nephrologe sollte in einem solchen Fall aber immer der Hauptansprechpartner bleiben.

Das weitere Vorgehen bestand zunächst in der regelmäßigen Kontrolle der Parameter sowie dem Weglassen von Pantoprazol und von Muskelaufbaupräparaten.

Neue Beschwerden und noch eine Nierenbiopsie

Nach einem halben Jahr kam der Patient mit neuen Beschwerden. Er war bereits mehrmals zur etappenweisen Entfernung der Paragangliome im Krankenhaus gewesen. Deshalb wurde er immer wieder krankgeschrieben. Auch der Kreatinin-Wert war zwischenzeitlich auf 1,5 mg/dl gesunken. 

Der junge Mann klagte diesmal über rezidivierende paravertebrale Schmerzen und über eine Kraftminderung. Aufgrund von erneuten Magenbeschwerden habe er wieder Pantoprazol eingenommen.

Der körperliche Untersuchungsbefund war erneut unauffällig. „Doch diesmal hatte er einen Krea über 8. Und diesmal kam er auch mit einer metabolischen Azidose. Und dieses Mal hatte er auch eine Proteinurie“, betonte Abu-Tair.

Folgende Laborwerte lagen vor:

  • Hb 13,3 g/gl

  • Leukos 12,8/nl

  • Kalium 4,5 mmol/l

  • LDH 201 U/l

  • Kreatinin 8,5 mg/dl

  • BGA: pH 7,35

  • Bic 13,7 mmol/l

  • BE –10,8 mmol/l

  • CO2 25,5 mmHg

  • Urinstatus: Protein/Kreatinin-Ratio 947 mg/g (< 200)

„Aber was machen Sie in einer solchen Situation? Noch einmal die Anamnese erweitern? Noch eine Nierenbiopsie? Noch einmal eine erweiterte Bildgebung zur Paragangliomsuche? Es war eine schwierige Situation“, sagte die Ärztin.

Das Team hat eine erneute Nierenbiopsie bei dem Patienten durchgeführt. Dabei ergab sich ein diffuser mäßiggradig akuter, potenziell reversibler Tubulusschaden bei vorbestehendem multifokalem chronischem tubulointerstitiellem Schaden.

Hinweise auf einen toxisch verursachten Nierenschaden 

Differenzialdiagnostisch imponierte laut Abu-Tair der Befund primär als medikamentös toxisch oder toxisch induziert.

Das Pantoprazol, das als Protonenpumpenhemmer grundsätzlich eine interstitielle Nephropathie auslösen kann, sei im Falle des jungen Mannes allerdings nicht bedeutsam, erklärt die Referentin. Dafür habe er bei etwa einer Tablette pro Woche zu wenig eingenommen. Er habe auch keine weiteren Medikamente geschluckt.

Der Patient wurde wieder nach Hause geschickt und aufgrund seiner andauernden Abgeschlagenheit krankgeschrieben, In diesem Zustand war es für ihn unmöglich, in seinem Betrieb zur Wasseraufbereitung zu arbeiten. Im weiteren Verlauf sank sein Kreatinin-Wert wieder auf 2,4 mg/dl, weshalb zunehmend sein Arbeitsplatz in Verdacht geriet. Im Rahmen einer erweiterten Anamnese haben die Ärzte überlegt, ob er dort mit Chemikalien direkten hatte. Doch nierenschädigende Stoffe waren nicht dabei.

Hellhörig geworden durch Abu-Tairs andauernde und drängende Frage, dass er doch mit irgendetwas Ungewöhnlichem in Kontakt kommen müsse, berichtete der Patient von einem Staub, der ab und an bei der Arbeit auf seinem Pausenbrot läge.

Gezielte Vergiftung am Arbeitsplatz

Bei einer polizeilichen Ermittlung überführten Beamte anhand von Videoaufnahmen einen 57-jährigen Arbeitskollegen, der im Pausenraum des Betriebs tatsächlich etwas auf die Pausenbrote seiner Kollegen gestreut hatte. Eine Analyse dieses Staubes ergab: Das, was auf dem Pausenbrot lag, sei giftiger als Kampfstoffe im Ersten Weltkrieg, wie es später ein Richter beschrieb.

In der Klageschrift des späteren Prozesses heißt es: „Auch beschäftigte sich der Angeklagte über die Jahre insbesondere mit den Wirkungen von Blei auf die Blutbildung, von Cadmium auf die Nierenfunktion, mit Quecksilber und dessen anorganischen Verbindungen, mit radioaktivem Polonium […].“

Der zweifache Familienvater soll demnach in einem primitiven Kellerlabor in seinem Haus in Bielefeld die immer giftiger werdenden Substanzen zusammengemischt haben. Und tatsächlich: Die Blutproben des Patienten wiesen deutlich erhöhte – und dynamische – Konzentrationen an Blei (93,7 µg/l und 130 µg/l) und Cadmium (1,8 µg/l) auf.

Im Zuge des Gerichtsprozesses kam zutage, dass der 57-Jährige noch weitere Kollegen vergiftet hatte, deren unklare Krankheitsverläufe rückwirkend auf die Experimente dieses Mitarbeiters zurückführen war. Unter anderem ein Patient, der als studentische Hilfskraft in eben diesem Betrieb gearbeitet hat und bei dem einige Monate zuvor an der Uniklinik Münster eine unklare Quecksilber-Vergiftung diagnostiziert wurde.

„Hätten wir gewusst, wonach wir suchen, hätten wir sicher die basophilen Tüpfelungen im Blut des Patienten sehen können“, erklärt Abu-Tair. Man hätte auch nachschauen können, ob er entsprechende Linien in der Mundschleimhaut aufweist, wenn man von einer Bleivergiftung gewusst hätte. „Aber wir wussten es nicht.“

Gleichzeitig „Läuse und Flöhe“

Der junge Patient in Bielefeld hätte also ein „Potpourri“ von Erkrankungen gehabt, resümiert die Nephrologin: einseseits die tubulointerstitielle Nierenerkrankungen durch wiederholte Exposition mit Blei und zum anderen das hereditäre Paragangliom/Phäochromozytom-Syndrom.

„Dieser Patient hatte also Läuse und Flöhe“, beschreibt Abu-Tair und betont ausdrücklich, wie sinnvoll es sei, sich nicht nur auf ein Krankheitsbild zu beschränken, sondern den Blick zu erweitern, um herauszufinden, was möglicherweise sonst noch vorliegt.

Eine spezifische und umgehende Therapiemöglichkeit für Blei- und Cadmiumvergiftungen gebe es laut Abu-Tair nicht, es könnten nur Supportivmaßnahmen bzw. nephroprotektive Maßnahmen angewendet werden. Es gäbe auch keine Indikation, Steroide oder andere Medikamente zu verabreichen.

Über den aktuellen Zustand ihres Patienten sprach Abu-Tair in ihrem Vortrag nicht. Laut eines Berichts der Süddeutschen Zeitung ist mindestens eines der Vergiftungsopfer verstorben. Ob es sich bei dem 26-Jährigen um den hier vorgestellten Patienten handelt, ist nicht bekannt.

Der Beitrag ist im Original erschienen auf Coliquio.de.

 

Kommentar

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