Die Lebenserwartung ist in den westlichen Industrienationen in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen. Mit steigendem Alter wächst aber auch das Risiko für chronische Erkrankungen und Begleiterkrankungen. Wo die ethischen und individuellen Grenzen der Medizin am Lebensende verlaufen – das diskutierten Experten beim Auftakt zur 128. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) [1].
Mit dem Alter nimmt die Multimorbidität zu. „Patienten, die wegen einer Herzinsuffizienz in die Klinik müssen, sind im Mittel 75 Jahre alt und haben fünf Komorbiditäten“, berichtete Prof. Dr. Georg Ertl, Generalsekretär der DGIM, Internist und Kardiologe aus Würzburg. „Für die fünf Komorbiditäten haben wir dann fünf Leitlinien, an die wir uns eigentlich halten sollten“, sagt Ertl.
Das Problem: Für die Aufnahme von Patienten in große klinische Arzneimittelstudien sind Komorbiditäten häufig ein Ausschlussgrund, sodass für die Behandlung multimorbider Patienten häufig keine Evidenz vorliegt. „Würden wir die jeweiligen Leitlinien für die einzelnen Krankheiten anwenden, könnte das zu gravierenden Risiken führen“, warnt Ertl.
So zeigt die SERVE-HF-Studie dass die Standardbehandlung bei Komorbidität zu erheblichen Problemen führen kann. In der Studie wurde die CPAP-Behandlung bei Patienten mit Herzinsuffizienz und zentraler Schlafapnoe mit einem Kontrollkollektiv verglichen. Das Ergebnis war negativ für die CPAP-Behandlung, die mit CPAP behandelten Patienten starben sogar häufiger.
Auch die MOOD-HF-Studie, die das Antidepressivum Escitalopram bei Patienten mit Herzinsuffizienz und einer Depression mit Placebo verglich, ergab: Unter Escitalopram verbesserte sich die Depression nicht mehr als unter Placebo; hinzu kamen Hinweise für negative Effekte auf weitere Endpunkte.
DGIM-Leitlinie zu Arzneimitteltherapie bei Multimorbidität
„Man kann also nicht einfach sagen: ‚Ich behandle das eine Leiden so, wie es in der dazugehörigen Leitlinie steht und das andere Leiden so, wie es in der entsprechenden Leitlinie steht‘“, sagt Ertl. Denn sowohl die Leiden selbst als auch die jeweilige Pharmakotherapie beeinflussen sich gegenseitig.
Die S2k-Leitlinie zum Management von Arzneimitteltherapie bei Multimorbidität, die die DGIM in ihrer Kommission für Arzneimitteltherapie-Management (AMTM) und Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) entwickelt, soll Abhilfe schaffen. Ertl betonte, dass auch zu überlegen sei, ob bei älteren multimorbiden Patienten, die Endpunkte der großen Zulassungsstudien, meist Mortalität oder wesentlich durch Mortalität bestimmt, nicht weniger entscheidend sind als Lebensqualität mit einer noch genügenden Leistungsfähigkeit. „Megatrials können uns helfen, für eine Krankheit eine Therapie zu etablieren, im Alltag müssen wir diese auf den individuellen Patienten anpassen“, sagte Ertl.
DRG-System erschwert eine menschenwürdige Palliativmedizin
Palliative Versorgung wird aktuell auf 320 Palliativstationen und durch 70 multiprofessionelle Palliativdienste im Krankenhaus angeboten. Die spezialisierte palliativmedizinische Versorgung sei wegen hoher Personalkosten kostenintensiv, so Prof. Dr. Claudia Bausewein, Direktorin der Klinik für Palliativmedizin und Vorsitzende des Klinischen Ethikkomitees des LMU Klinikums München.
In Deutschland werden palliativmedizinische Leistungen auf Palliativstationen und in Palliativdiensten im Fallpauschalensystem über OPS-Kodes (8-982 Palliativmedizinische Komplexbehandlung, 8-98e Spezialisierte stationäre palliativmedizinische Komplexbehandlung, 8-98h Palliativdienste) und entsprechende Zusatzentgelte abgerechnet. Möglich ist auch, Palliativstationen als „Besondere Einrichtungen“ einzustufen und tagesgleiche Pflegesätze abzurechnen.
Bausewein sieht die Entwicklung für die stationäre Palliativversorgung „insgesamt positiv“, weil das DRG-System es ermöglicht, Struktur- und Prozessqualitätskriterien für stationäre Palliativleistungen einzuführen. Dennoch erschwere das DRG-System eine menschenwürdige Palliativmedizin:
In der Palliativmedizin hängen die komplexen körperlichen, seelischen, sozialen und spirituellen Probleme der Betroffenen und ihrer Angehörigen nicht primär von der Diagnose einer Erkrankung ab. Stattdessen stehen die Behandlung von Symptomen, die psychosoziale Unterstützung und spirituelle Begleitung im Vordergrund. Diese Komplexität ist im DRG-System aber nicht ausreichend abgebildet.
Grundsätzlich werden im DRG-System teure Therapien und apparative Untersuchungen besser vergütet und schaffen mehr Gewinne. Das führt zu Fehlanreizen und auch möglicher Fehlversorgung am Lebensende.
Notwendige Einsparungen auf Palliativstationen und in Palliativdiensten sind nur über Personalkürzungen möglich.
In der Palliativversorgung wird gerade bei fortgeschrittenen Erkrankungen die Indikation für viele Therapien und diagnostische Maßnahmen kritisch hinterfragt, sodass auch Kosten in der Betreuung gespart werden können. Eine kostengünstigere Versorgung könnte wiederum zu einer Abwertung von DRGs führen, was allgemein nicht erwünscht ist.
Die Unterschiede in der Vergütung zwischen allgemeiner Palliativversorgung mit geringen Strukturanforderungen und spezialisierter Palliativversorgung mit hohen Struktur- und Prozessanforderungen werden geringer oder lassen sich nicht kostentrennend darstellen. Dies kann Krankenhäuser dazu veranlassen, die weniger aufwendige und kostengünstigere Art der Versorgung anzubieten.
Das Zusatzentgelt für Palliativdienste ist bisher nicht bepreist und damit abhängig von individuellen Verhandlungen mit den Kassen. Dabei werden in der Regel Stundensätze oder Pauschalvergütungen angeboten, die in keiner Weise kostendeckend sind.
Solange die palliativmedizinische Versorgung innerhalb des DRG-Systems finanziert werde, müssen die Zusatzentgelte für die einzelnen OPS-Kodes entsprechend angepasst werden, sodass die spezialisierte Palliativversorgung ausreichend finanziert wird und sich von der allgemeinen Palliativversorgung abgrenzen lässt, betont Bausewein.
Für die Finanzierung von Palliativdiensten, die bisher nicht ausreichend gesichert ist, sollten Alternativen wie z.B. eine Strukturfinanzierung in Betracht gezogen werden. Stelle man das DRG-System grundsätzlich infrage, sollten für die Palliativmedizin Finanzierungsmodelle wie in Australien oder England erwogen werden, die auf der Komplexität der Patienten und nicht auf deren Diagnosen beruhen.
Wie lässt sich Überversorgung am Lebensende vermeiden?
Der medizinische Fortschritt hat Überlebensperspektiven in Situationen eröffnet, in denen früher Sterben und Tod unvermeidlich waren. Doch diese Perspektiven sind nicht frei von Ambivalenz und tragischen Konsequenzen – etwa, wenn der Tod nicht abgewendet oder wenn das Überleben nur um den Preis einer dauerhaften, schweren Einschränkung der Lebensqualität sichergestellt werden kann.
In Anbetracht einer schlechten Prognose stellt sich häufig die Frage nach dem Sinn der weiteren Intensivbehandlung, machte Prof. Dr. Uwe Janssens, Chefarzt an der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital Eschweiler, deutlich. „Wir müssen das Thema Tod zurück in den Mittelpunkt der Gesellschaft holen, das wurde in den letzten zehn, zwanzig Jahren völlig an den Rand gedrückt“, sagte Janssens.
Nach Einschätzung der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit in Europa (OECD) wird etwa ein Fünftel der Gesundheitsausgaben in den Mitgliedsländern für Leistungen verwendet, die keinen oder nur einen marginalen Beitrag für bessere Gesundheitsergebnisse leisten.
In Deutschland existieren in der Patientenversorgung nebeneinander Unter-, Fehl- und Überversorgung. Als Überversorgung werden diagnostische und therapeutische Maßnahmen bezeichnet, die nicht angemessen sind, weil sie Lebensdauer oder Lebensqualität der Patienten nicht verbessern, mehr Schaden als Nutzen verursachen und/oder von den Patienten nicht gewollt werden. Daraus können hohe Belastungen für die Patienten, deren Familien, die Behandlungsteams und die Gesellschaft resultieren.
Wie Überversorgung in der Intensivmedizin erkannt und vermieden werden kann, haben die Sektion Ethik der DIVI und die Sektion Ethik der DGIIN zum Thema Überversorgung in der Intensivmedizin in ihrem Positionspapier zusammengefasst:
Regelmäßige Evaluierung des Therapieziels im Behandlungsteam unter Berücksichtigung des Patientenwillens und unter Begleitung von Patienten und Angehörigen;
Förderung einer patientenzentrierten Unternehmenskultur im Krankenhaus mit Vorrang einer qualitativ hochwertigen Patientenversorgung;
Fehlanreize im Krankenhausfinanzierungssystem minimieren, gestützt auf die notwendige Reform des DRG-Systems
Stärkung der interdisziplinären / interprofessionellen Zusammenarbeit in Aus-, Fort- und Weiterbildung;
Initiierung eines gesellschaftlichen Diskurses zur Überversorgung.
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Diesen Artikel so zitieren: „Das Thema Tod zurück in den Mittelpunkt der Gesellschaft holen“: Wie soll Medizin am Lebensende aussehen? - Medscape - 2. Mai 2022.
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