Geht es um Reisen mit Vorerkrankungen, dann denkt man vor allem an Patienten mit Herz-Kreislauf-, Atemwegs- oder Stoffwechselkrankheiten – und weit seltener an Menschen mit psychischen bzw. psychiatrischen Leiden. Doch gerade auch für sie ist je nach Reiseart und -ziel eine gute Reisevorbereitung und die damit verbundene ärztliche Beratung wichtig.
Woran dabei zu denken ist, erläuterte der Psychiater und Psychotherapeut Dr. Hans-Jürgen Schulz, Ärztlicher Leiter der DRK-Tagesklinik Worms, beim 23. Forum Reisen und Gesundheit des CRM Centrum für Reisemedizin, das als Hybridveranstaltung in Berlin und online stattfand [1].
Mit Reisen Probleme lösen?
„Wenn Menschen eine Reise unternehmen, um Probleme zu lösen, kann dies insbesondere bei vorbestehender seelischer Vulnerabilität genau gegenteilige Effekte auslösen“, warnte Schulz. Zu bedenken sei jedoch ebenfalls, dass bislang als seelisch gesund geltende Reisende psychisch auffällig werden können, wenn ihre Psyche den Kontakt mit spezifischen Stressoren in der Fremde nicht meistert.
Der Psychiater verwies dabei auf mit dem Stichwort Kulturschock verbundene Stressoren: Sie könnten vor allem bei längeren Aufenthalten in einer fremden Zielregion zu den Symptomen einer Anpassungsstörung führen – etwa zu Ängsten, depressiver Stimmung, Müdigkeit und Leistungsknick.
„Jede Form der Flucht aus dem Alltag", so Schulz, „ist als Basis für Langzeitaufenthalte ein schlechter Ratgeber und nicht tragfähig. Wer zu Hause keine psychische Stabilität erreicht, dem wird dies auch kaum in der Ferne gelingen.“
Mögliche Exazerbation psychiatrischer Leiden
Ganz allgemein ist Reisestress Schulz zufolge ein möglicher Auslöser für die Exazerbation bzw. Verschlimmerung einer psychischen Erkrankung. Dabei können bereits Jetlag, ungewohntes Klima, fehlende Sprachkenntnisse und fremdes Essen als Stressoren wirken: „Psychisch kranke Patienten sind auf Reisen meist vulnerabler als Gesunde. Und viele von ihnen haben eingeschränkte Coping-Strategien, bewältigen Stress und Krisen also schlechter“, sagte Schulz.
Ganz erheblichen Stress könnten diese Patienten bei Abenteuerreisen unter extremen Bedingungen oder mit außergewöhnlichen körperlichen Anstrengungen empfinden (Wüstentouren, Tauchen, Bergsteigen, Extremsportarten). Völlig auf solche besonderen Aktivitäten verzichten sollten deshalb Menschen, die sich in der akuten Phase einer psychiatrischen Erkrankung befinden oder gar suizidal gefährdet sind.
Stressoren reduzieren, Gelassenheit entwickeln
Um eine Urlaubsreise möglichst stressarm zu gestalten, empfiehlt Schulz allen Reisenden:
sich Zeit zum Ankommen zu lassen,
realistisch zu bleiben,
sich nicht zu viel vorzunehmen und
sich bei Reisen mit mehreren Personen gegenseitig Freiräume zuzugestehen.
Außerdem rät Schulz:
„Dokumentationswahn“ (mit Handy-, Foto- oder Videokamera) zu vermeiden,
im Sinne von „Digital Detox“ so lange wie möglich offline zu gehen und
generell Gelassenheit zu entwickeln.
Stabile medikamentöse Einstellung bedeutsam
Besonders wichtig – gerade auch für die reisemedizinische Beratung – sind Vorsorgemaßnahmen, wenn es sich bei den Reisenden um Patienten mit manifester psychischer Erkrankung handelt, etwa mit einer Depression, bipolaren Störung, Schizophrenie oder Psychose. Hier sollte neben der Beurteilung der aktuellen Reisefähigkeit auch geklärt werden, was bei einer Verschlechterung unterwegs zu unternehmen ist.
„Voraussetzung für eine Reise ist bei diesen Patienten immer eine stabile medikamentöse Einstellung“, betonte Schulz. Das heißt auch, dass im Falle von Neuverordnungen von Psychopharmaka zunächst keine Fernreisen stattfinden sollten, um besser bzw. im Heimatland auf eventuelle Neben- oder Wechselwirkungen reagieren zu können.
Für alle Reisenden mit Psychopharmaka-Verordnung wichtig ist eine zuverlässige Medikamenteneinnahme, ebenso ist darauf zu achten, dass für die Reise – und eine eventuelle unvorhergesehene Verlängerung der Reisedauer – ein ausreichender Medikamentenvorrat verordnet wird.
Um eventuelle Zoll-Probleme bei der Einreise zu vermeiden, sollte auf Auslandsreisen ein (in Englisch oder der Sprache des Ziellands verfasstes) ärztliches Attest mit Nennung der verordneten Medikamente mitgeführt werden.
Bei Therapie mit Lithium: Flüssigkeitsmangel vermeiden!
Im Falle einer für das Reiseziel empfohlenen Malaria-Chemoprophylaxe empfiehlt der Wormser Psychiater Zurückhaltung bei der Verordnung von Mefloquin (Lariam®), da dieses im Verdacht steht, Psychosen auslösen zu können: „Falls die Verordnung unumgänglich erscheint, sollte man das Medikament bereits 2 bis 3 Wochen vor Reisebeginn erst einmal testweise einsetzen.“
Patienten unter Lithium-Therapie (z.B. bei Depressionen oder bipolaren Störungen) sollten darauf hingewiesen werden, dass die häufigste Ursache einer Lithiumvergiftung Flüssigkeitsmangel oder Flüssigkeitsverlust ist. Relevant ist dies nicht nur bei Reisen in klimatisch trockene oder heiße Zonen, sondern etwa auch im Falle einer gastrointestinalen Erkrankung mit Diarrhö und Erbrechen.
„Nicht zu vergessen ist“, so Schulz, „dass bei depressiven Patienten auf Reisen die Suizidgefahr steigen kann. Nicht zuletzt deshalb ist Patienten mit manifesten psychiatrischen Erkrankungen zu empfehlen, nicht allein, sondern in Begleitung zu reisen, um in Krisensituation Unterstützung zu haben.“
Psychiatrische Erkrankungen oft mit Alkoholabusus assoziiert
Nicht wenige psychiatrische Erkrankungen sind mit Alkoholabusus bzw. -abhängigkeit assoziiert, wie Schulz erklärte: „Wenn diese Patienten in muslimische Länder mit Alkoholverbot reisen wollen, müssen sie Herr der Lage sein – oder sie riskieren, bei einer Intoxikation mit auf dem Schwarzmarkt erworbenen Alkoholika statt im Krankenhaus im Gefängnis zu landen.“
Auch tritt bei Alkoholabhängigen relativ schnell ein Entzugssyndrom ein, das unter Umständen tödlich verlaufen kann. Nicht zuletzt stellt Alkoholabhängigkeit einen Risikofaktor für Höhenkrankheit und Dekompressionskrankheit dar.
Zur Beurteilung einer eventuellen Alkoholabhängigkeit in der Praxis empfahl Schulz den CAGE-Selbsttest.
Leichte Demenz kein Hinderungsgrund für Reisen
Eine leichte oder beginnende Demenz stellt nach den Worten des Wormser Psychiaters kein Hindernis für eine Reise dar. Am besten sollten allerdings vertraute Orte bereist werden. Empfehlenswert ist zudem, dass Angehörige die Patienten begleiten, die auch zu Hause mit deren Betreuung vertraut sind.
Für Menschen, die unter Flugangst leiden, hält Schulz Vermeidungsverhalten für die falsche Strategie: „Vielmehr sollten sich diese Patienten mit Informationen zu technischen und physiologischen Vorgängen beim Fliegen auseinandersetzen und exponieren, um die Angst zu überwinden.“ Hierauf bereiten auch Flugangstseminare vor, bei denen u.a. Stopp-Techniken gegen katastrophisierendes Denken trainiert werden können.
„Entspannungsverfahren wie Autogenes Training oder Progressive Muskelrelaxation sollten natürlich bereits einige Zeit vor der Reise eingeübt werden und nicht erst, wenn die Angstsituation eingetreten ist“, so Schulz.
Krisenplan mit Kontaktdaten im Heimat- und Reiseland
Zur Vorbereitung einer Auslandsreise gehört für psychisch kranke Patienten auch, einen Krisenplan mit Kontaktdaten zu Hause zu erstellen und sich – z.B. bei der deutschen Botschaft – Adressen von psychiatrischen Kliniken und Praxen im Zielland zu beschaffen.
Hilfreiche Informationen zum Reisen mit Betäubungsmitteln gibt es u.a. auf der Website des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte.
Bei der unverzichtbaren Auslandsreisekrankenversicherung sollte schließlich darauf geachtet werden, dass eine psychische Erkrankung nicht vom Versicherungsschutz ausgeschlossen ist, ein erweiterter Schutz für chronisch Kranke besteht und die Versicherung einen eventuell notwendigen Krankenrücktransport einschließt.
Credits:
Photographer: © Flydragonfly
Lead Image: Dreamstime
Medscape Nachrichten © 2022 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Stressfrei in den Urlaub: Welche reisemedizinische Beratung Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen brauchen - Medscape - 29. Apr 2022.
Kommentar