Verbannung? Nein, russische Ärzte sollten Teil der medizinischen Community bleiben – das fordern deutsche Kollegen

Michael van den Heuvel 

Interessenkonflikte

27. April 2022

Russlands Krieg gegen die Ukraine dauert an. Die internationale Staatengemeinschaft hat etliche Maßnahmen gegen den Aggressor beschlossen. Auch die medizinische Community will ihren Beitrag leisten. Beispielsweise hat die Europäische Gesellschaft für Kardiologie (European Society of Cardiology, ESC) die Mitgliedschaft der kardiologischen Gesellschaften in Russland und Belarus vorübergehend ausgesetzt (Medscape berichtete).

Was denken Kollegen aus Deutschland darüber? Das wollten wir im Rahmen einer Umfrage erfahren. Mehr als 800 Medscape-Leser haben daran teilgenommen, darunter 70% Ärzte. Sie sprechen sich mehrheitlich dafür aus, russische Kollegen nicht auszuschließen – und die Bevölkerung weiter zu versorgen. Ob medizinische Fachgesellschaften politisch handeln sollten, ist den Antworten zufolge umstritten.

Russische Kollegen sollten Teil der medizinischen Community bleiben 

Ein Blick auf die Details. Recht deutlich fiel das Votum bei der Frage aus, ob russischen Ärzten der Zugang zu internationalen Netzwerken verwehrt werden sollte. Diess befürworten lediglich 19%, während 76% dagegen sind. Weitere 5% haben keine Meinung zum Thema.

Die Umfrage lief auch unter Medscape.com. 37% der US-Ärzte sind der Meinung, russische Kollegen auszuschließen, 57% sind dagegen, und 5% haben keine klare Meinung zum Thema.

Medizin und Politik trennen – oder nicht?

Deutlich kontroverser beurteilen Ärzte die Frage, ob sich medizinische Fachgesellschaften politisch positionieren sollten. 33% sind dafür, 37% dagegen, und 30% machen dies von der jeweiligen Situation abhängig.

In den USA zeigte sich ein ähnliches Bild. 37% sind der Meinung, Fachgesellschaften sollten sich stärker in die Politik einmischen, 34% sind dagegen und 27% würden dies je nach Thema entscheiden.

Patienten weiter versorgen – aber keine klinischen Studien in Russland durchführen

Die befragten Ärzte sind größtenteils dagegen, Patienten aus Russland von der Medikamentenversorgung abzuschneiden. Pharmazeutische Hersteller sollten generell Medikamente liefern wie bisher (55%) oder dies auf lebensnotwendige Medikamente beschränken (34%). Nur 11% befürworten komplette Lieferstopps.

Die Meinung teilen US-Kollegen: 48% befürworten die weitere Versorgung Russlands mit Pharmaka, 24% würden dies auf lebenswichtige Therapien begrenzen, und 26% fordern, die Versorgung komplett einzustellen.

Anders sieht die Sachlage bei klinischen Studien aus. 51% der deutschen Befragten sind dagegen, weitere Studien in Russland durchzuführen (USA: 46%), während sich 37% dafür aussprechen, Forschungsprogramme wie bisher durchzuführen (USA: 38%). Und 12% wollen sich auf Untersuchungen zu lebenswichtigen Arzneimitteln beschränken (USA: 14%).

Wenig direkt Betroffene – großes Engagement

Nur 20% der Befragten aus Deutschland sind von der Ukraine-Krise direkt betroffen (USA: 33%); 50% bemerken keine Auswirkungen im beruflichen Bereich (USA: 47%), und auf 30% trifft dies nicht zu, beispielsweise, weil Ärzte nicht praktizieren (USA: 19%).

Das Engagement ist groß: 48% der Kollegen aus Deutschland haben Geld gespendet, 8% bieten medizinische Hilfe an, 3% arbeiten als freiwillige Helfer, und 17% übernehmen sonstige Aufgaben.

Persönliche Einblicke in die Krise

Noch ein Blick auf internationale Ergebnisse der Umfrage. Von mehr als 2.000 ukrainischen Ärzten gaben 95% an, dass ihre Arbeit bzw. die Gesundheitsversorgung vor Ort durch den Krieg beeinträchtigt wurden. Nur 12% der US-amerikanischen Ärzte und 17% der Ärzte außerhalb der Vereinigten Staaten und der Ukraine berichten über solche Auswirkungen.

Die Befragten wurden gebeten, sich zu ihren persönlichen Erfahrungen zu äußern, was etwa 100 taten. Ein pädiatrischer Onkologe und Hämatologe aus Poltava im Nordosten der Ukraine sagte, dass der Krieg „Dutzende meiner Patienten gezwungen hat, ihre Häuser zu verlassen, um ihre Krebsbehandlung fortzusetzen.... Es ist absolut inakzeptabel, eine Chemotherapie gegen Krebs in Bunkern und Kellern zu erhalten.“

Dr. Andrii Berbets von der Bukowinischen Staatlichen Medizinischen Universität in Czernowitz, einer Stadt im Südwesten der Ukraine, schrieb, dass er seine Arbeit „als Professor für Geburtshilfe und Gynäkologie unterbrechen und sich den ukrainischen Streitkräften als einfacher medizinischer Angestellter anschließen musste“.

Ein anderer Kollege, ein pädiatrischer Neurologe, der noch einen weiteren Job in der Pharmazie hat, erklärte, dass sich der Hauptsitz seines Unternehmens in Charkiw befinde, „das derzeit von den russischen Truppen bombardiert wird“; sein Unternehmen habe aufgehört zu existieren.

Ukrainische Ärzte fordern drastischere Maßnahmen

Die ukrainische Meinung gegenüber dem russischen medizinischen Establishment war fast durchgängig negativ. 95% der Befragten sagten, dass russische Ärzte aus internationalen Berufsverbänden ausgeschlossen werden sollten. Berbets erklärte, dass „alle russischen Berufsverbände dauerhaft von allen internationalen medizinischen Aktivitäten ausgeschlossen werden müssen, weil sie die Aggression rechtfertigen“.

Mehrere Umfrage-Teilnehmer begründeten ihre ablehnende Haltung gegenüber der russischen Ärzteschaft mit einer den Krieg unterstützenden Erklärung einer nationalen Universitätsorganisation, der Russischen Rektorenunion, von Anfang März.

In einem Kommentar wurde eine andere Sicht der Dinge geäußert: „Die Teilnahme russischer Kollegen an Berufsverbänden ist zumindest eine Möglichkeit, ihnen die wahren Informationen über den Albtraum, der in der Ukraine passiert, zu vermitteln.“

Nur 16% der 613 amerikanischen Ärzte meinten, dass ihre russischen Kollegen aus Netzwerken ausgeschlossen werden sollten, und 14% der 5.076 nicht-amerikanischen, nicht-ukrainischen Befragten (darunter 300 russische Ärzte) stimmten dem zu.

Kontroversen gab es auch bei der Frage, ob medizinische Fachgesellschaften öffentlich zu politischen Themen Stellung nehmen sollten: 85% der ukrainischen Befragten sprachen sich dafür aus, verglichen mit 24% der Amerikaner und 21% der internationalen Ärzte. US-amerikanische Ärzte waren fast ebenso häufig der Meinung, dass dies von der jeweiligen Frage abhängt (35%), wie sie dies ablehnten (40%).
 

Kommentar

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