Gefahr noch unterschätzt: EU-Studie zeigt große Lücken bei Lipidtherapie – Werte bei Risikopatienten müssen drastisch runter

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

25. April 2022

Fettwerte runter, noch stärker und noch häufiger – auf diese Formel lässt sich das Ziel bei hohem oder sehr hohem kardiovaskulärem Risiko herunterbrechen. Der Appell zum Nachschärfen ergibt sich aus einer europäischen Beobachtungsstudie, deren Zwischenauswertung für Deutschland auf der 88. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie DGK in Mannheim vorgestellt wurde [1]

Nach dieser Auswertung unterschätzen Ärzte noch oft die Gefahr, der die Patienten ausgesetzt sind. Sie zögern deshalb mit der Behandlung – wohl einer der Gründe, warum die Lipidwerte überhöht bleiben.

Die derzeit gültige europäische Leitlinie zur Dyslipidämie aus dem Jahr 2019 hatte die Schraube beim Low-Density-Lipoprotein-Cholesterin (LDL-Cholesterin) noch fester angezogen als zuvor 2016. Darüber informiert eine DGK-Mitteilung zu einem Vortrag von Prof. Dr. Ulrich Laufs, Klinikdirektor an der Universität Leipzig, und Dr. Katja Tuppatsch aus München, Mitarbeiterin beim Studien-Sponsor Daiichi Sankyo Deutschland.

In Stufen geht es zu einem besseren Lipidprofil

Auf die europäische Grundlage stützt sich auch die Leitlinie der DGK, indem sie ein gestaffeltes Vorgehen empfiehlt (siehe Info-Kasten). Nach der Devise „the lower the better“ hat sie bei sehr hohem Risiko nicht mehr wie früher einen LDL-Cholesterin-Wert von maximal 1,8 mmol/l „erlaubt“, sondern nur noch 1,4 mmol/l. Die Obergrenze von 1,8 mmol/l gilt seit 2019 für die etwas ungefährlichere Kategorie „hohes Risiko“.

Ein Blick jedoch in die Vorgeschichte offenbart: Schon die milderen Werte von 2016 waren nur ein schönes Ideal geblieben. Kaum verwunderlich, denn europaweit hatten lediglich 9% Patienten mit höchstem Risiko eine Kombitherapie mit Ezetimib erhalten hatten, nur 1% einen PCSK9-Inhibitor, wie mehrere Real-World-Studien belegen.

Zahlen aus Deutschland hatten die Defizite bestätigt: Im Jahr 2018 verschrieben Fachärzte nur einem Anteil von 78% der Patienten mit hohem oder sehr hohem Risiko eine Statin-Monotherapie und nur 16% eine Kombination aus Statin plus Nicht-Statin. Hausärzte griffen noch seltener zur Kombitherapie, nämlich nur bei knapp 5% dieser Patientengruppe.

Wie hält es Europa mit den Lipidwerten?

Hat nun die rigorose Leitlinie von 2019 der erwünschten Lipidsenkung endlich zum Sprung vom Papier bzw. Internet in die Praxis verholfen? 

Diese Frage untersucht die europäische Beobachtungsstudie SANTORINI, deren Ende für März 2023 geplant ist. Das Akronym steht für „Treatment of High and Very High riSk Dyslipidemic pAtients for the PreveNTion of CardiOvasculaR Events“ – angelehnt an die Kykladeninsel Santorin, die durch einen Vulkanausbruch vor 3.600 Jahren legendär wurde.

Teilnehmer sind knapp 10.000 Patienten mit hohem oder sehr hohem kardiovaskulärem Risiko. Sie stammen aus 14 Ländern. Ein Teil hat bereits ein Ereignis wie Herzinfarkt oder Schlaganfall hinter sich, braucht also eine Sekundärprävention.

Erste Auswertung für Deutschland liegt vor

Nun liegt ein Zwischenbericht mit Daten von rund 2.000 Patienten aus Deutschland vor, im Durchschnitt 66 Jahre alt, zu ungefähr einem Viertel Frauen. Zu Studienbeginn nahm jeweils ein Fünftel keine Lipidsenker oder eine Kombination, meist ein Statin plus Ezetimib, selten einen PCSK9-Inhibitor plus ein orales Medikament. 60% nahmen ein Einzelpräparat.

Die meisten waren bei Fachärzten für Kardiologie in Behandlung, von denen gut die Hälfte das Risiko leitliniengerecht klassifizierte, während sich die übrigen auf ihre Erfahrung verließen. Bei knapp 3 Viertel der Patienten lautete ihre Bewertung „sehr hohes Risiko“, beim Rest „hohes Risiko“.

Die Therapie hat noch viel Luft nach oben

Wie jedoch eine nachträgliche Berechnung ergab, hatten sie die Gefahr bei mehr als 20% der Patienten unterschätzt. Auch die Fettwerte könnten noch deutlich eine Nachjustierung gebrauchen: Patienten mit sehr hohem Risiko hatten im Mittel einen LDL-Cholesterin-Wert von 2,5 mmol/L, jene mit hohem Risiko einen Wert von knapp 3 mmol/L. 

Insgesamt erreichten damit 73% jener Patienten, die von ihren Ärzten in die Rubrik „hohes Risiko“ eingestuft worden waren, und 81% der Patienten mit sehr hohem Risiko den definierten Zielwert nicht. 

 
Der Anteil von Kombinationstherapien ist im Vergleich zu vorherigen Studien leicht gestiegen, dennoch bleiben sie auf eine Minderheit der Patienten beschränkt. Prof. Dr. Ulrich Laufs, Dr. Katja Tuppatsch
 

Fazit der Autoren: In Deutschland haben diese Patienten in der täglichen Praxis noch immer wesentlich höhere LDL-Cholesterin-Werte, als die Leitlinien mit evidenzbasierten Daten empfehlen. „Der Anteil von Kombinationstherapien ist im Vergleich zu vorherigen Studien leicht gestiegen, dennoch bleiben sie auf eine Minderheit der Patienten beschränkt, und speziell PCSK9-Inhibitoren werden sehr selten verwendet“, so werden Laufs und Tuppatsch in der Mitteilung zitiert. Anerkennend vermerken sie immerhin, dass die Leitlinien die am häufigsten genutzte Basis für eine Risikoeinschätzung sind.  

Risiko-Klassifikation und Empfehlungen der DGK gemäß der European Society of Cardiology (ESC) und der European Atherosclerosis Society (EAS)
Menschen mit gesicherter kardiovaskulärer Erkrankung, mit Diabetes mellitus Typ 1 oder 2, gravierenden individuellen Risikofaktoren oder chronischer Nierenerkrankung haben automatisch ein sehr hohes oder hohes kardiovaskuläres Risiko. Bei ihnen sind keine Modelle zur Abschätzung erforderlich; sie benötigen eine Behandlung all ihrer Risikofaktoren.
Bei allen anderen eignet sich ein System wie SCORE (Systemic Coronary Risk Estimation). Es schätzt das kumulative 10-Jahres-Risiko für das erste tödliche atherosklerotische Ereignis ab, ob Herzinfarkt, Schlaganfall oder eine andere arterielle Verschlusskrankheit, einschließlich einem plötzlichen Herztod.

Merkmale eines sehr hohen kardiovaskulären Risikos

  • atherosklerotische Erkrankung, dokumentiert entweder klinisch (Herzinfarkt, Angina pectoris, koronare oder arterielle Revaskularisierung, Schlaganfall, TIA, PAVK) oder bildgebend (bedeutende Plaques in der Koronarangiografie oder Ultraschalluntersuchung der Carotis),

  • Diabetes mellitus mit Organschäden wie Proteinurie oder einem Nachteil wie Rauchen, Hypertonie oder Fettstoffwechselstörung,

  • schwere chronische Nierenerkrankung (GFR unter 30 ml/min/1,73 m²),

  • SCORE-Wert über 10% für das 10-Jahres-Risiko eines tödlichen kardiovaskulären Ereignisses.

Merkmale eines hohen Risiko

  • gravierende Risikofaktoren, etwa familiäre Fettstoffwechselstörungen und schwere Hypertonie,

  • Diabetes mellitus (außer eventuell junge Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1),

  • Mittelschwere chronische Nierenerkrankung (GFR 30–59 ml/min/1,73 m2),

  • SCORE zwischen 5% und 10% für das 10-Jahres-Risiko eines tödlichen kardiovaskulären Ereignisses.

 

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Kommentar

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