Wie wird sich der Berufsstand der Mediziner ändern? Wann sollen sich die Akteure, die im niedergelassenen Bereich oft zwischen Personalmangel und starker Nachfrage jonglieren, mit Wandlungsprozessen wie der Digitalisierung beschäftigen? Diesen Fragen geht Hans-Joachim Schade, Fachanwalt für Medizinrecht und Wirtschaftsmediator von der Rechtsanwaltskanzlei „Broglie, Schade & Partner“, in diesem Meinungsbeitrag nach.

Hans-Joachim A. Schade
Mit Kopfschütteln reagieren viele Ärztinnen und Ärzte mittlerweile, wenn es um die Digitalisierung in Arztpraxen und Kliniken geht. Nicht nur Kleinbetriebe und Selbstständige, gerade auch Arztpraxen können sich bei starker Nachfrage wegen Zeitmangels nicht tiefgreifend mit dem digitalen Wandel beschäftigen.
Vielfach sind die Inhaberinnen und Inhaber auch durch die Erfahrungen mit der Telematik-Infrastruktur abgeschreckt. Verständlich und doch gefährlich, denn kümmern sie sich nicht um die digitale Innovation, kommt es zu Auszehrungsprozessen.
Eine Lösung für diese Zwickmühle könnte die sogenannte „organisationale Ambidextrie“ bieten. Dahinter steht die Idee, der Innovation eine Struktur zu geben, sodass Organisationen fähig sind, gleichzeitig effizient und flexibel zu arbeiten.
Ein bekanntes Beispiel liefert der Online-Gigant Google mit der unternehmensinternen 80/20 Regel. Sie besagt, dass Mitarbeiter von Google sich in 20% ihrer Arbeitszeit mit innovativen Themen beschäftigen sollen, unabhängig vom Tagesgeschäft.
Bundesärztekammer: Einführung der Digitalisierung ist alternativlos
Lesenswert sind in diesem Zusammenhang auch die „Thesen zur Weiterentwicklung der ärztlichen Patientenversorgung durch Digitalisierung“ der Bundesärztekammer (BÄK) in Deutschland. Die Entwicklung hin zur Digitalisierung sieht das Gremium als alternativlos an und prognostiziert grundlegende Veränderungen für die Rolle von Vertragsärztinnen und Vertragsärzten und das System der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) in den nächsten 2 bis 4 Jahren.
Aus diesem Grund fordert die BÄK auch, den erhöhten Zeitaufwand der Ärztinnen und Ärzte aus einem Digitalisierung-Fond zu bezahlen. Eine weitere der zentralen Thesen ist, dass sich die Krankenkassen mit Hilfe des Gesetzgebers vom Kostenträger zum Leistungserbringer nicht nur für Kranke, sondern schwerpunktartig für gesunde Versicherte entwickeln werden.
Schlüsselmarkt: Personalisierte und digitale Gesundheitsprävention
Der Umgang mit Gesundheit und Prävention verändert sich. Ursache ist der Trend zur dauerhaften Selbstvermessung bei gesunden Menschen. Smart Watches & Co. werden insbesondere von jüngeren einkommens- und bildungsstarken Personen und bei einer technikaffinen älteren Generation genutzt. Im Blick haben sie Vitaldaten wie EKG, EEG, Blutdruck, Blutzucker und Temperatur.
Der deutsche Gesetzgeber will diesen Markt nicht globalen Konzernen wie Google, Apple und Amazon überlassen. Denn wer die digitalen Plattformen beherrscht und die Auswertung der kostenlos verfügbaren Daten der Nutzerinnen und Nutzer, der wird den Gesundheitsmarkt perspektivisch beherrschen.
Da die berufspolitischen Vertreter der Ärzteschaft in Form des KV-Systems jedoch eher skeptisch auf den Trend der Digitalisierung blicken, stärkte der Gesetzgeber zuletzt die Rolle der Krankenkassen. Der Handlungsspielraum der gesetzlichen Krankenkassen wurde so mit dem Ziel erhöht, dass diese eine aktivere Rolle im Management der Versorgung ihrer Mitglieder übernehmen sollen.
Bedeutsam ist, dass nunmehr die Krankenkassen ihren Fokus nicht mehr allein auf die Kostenübernahme für die Versorgung ihrer erkrankten Mitglieder legen. Sie investieren vielmehr in die personalisierte Gesundheitsprävention ihrer gesunden Versicherten.
Der Arzt als Life Coach: Ärztliche Begleitung motivierter Gesunder
Die Zielsetzung bei der medizinischen Begleitung von Gesunden ist, ungünstige individuelle Lebensstile zu ändern, um das Entstehen von Erkrankungen möglichst zu verhindern. Daraus resultieren 2 Aufgaben, die die Krankenkassen vom Gesetzgeber erhalten haben:
Erstens aus den ihnen vorliegenden Daten individuelle Behandlungsbedarfe abzuleiten und
zweitens den Versicherten passende digitale Anwendungen zur Verfügung zu stellen.
Historisch betrachtet ist dies die frühere Leibarztfunktion, die des selbstständigen ambulanten Arztes zur Erhaltung von Leistungsfähigkeit und Gesundheit.
Die Techniker Krankenkasse beispielsweise hat für diesen Bereich den medizinischen Informationsservice mit der Bezeichnung TK-ÄrzteZentrum geschaffen. Beauftragt ist ein externes und unabhängiges Telearztzentrum. Dabei hat die Beratung gesunder Versicherter juristisch eine Doppel-Natur: entweder Auftritt als heilkundiger Arzt oder als nichtärztliche nicht spezifisch personenbezogene allgemeine Gesundheitsinformation.
Medizinische Information mit rechtlichen Bauchschmerzen
Bei den Hinweisen zur Nutzung ihrer medizinischen Informationsangebote formuliert die TK einen Haftungsausschluss. Sie sieht offensichtlich den Bedarf an der ganzheitlichen Beratungsqualität ausgebildeter Mediziner.
Gleichzeitig will die TK im Heilkundebereich nicht haftend für die Validität der Computerdiagnosen auftreten. Deshalb die allgemeinen Verweise auf Auskünfte, die in keinem Fall als Hinweis auf das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen einer bestimmten Krankheit verstanden werden sollen.
Ähnliche Beratungsangebote mit Ärztinnen und Ärzten offerieren andere Digitalanbieter außerhalb der Krankenkassen in den Segmenten Sport, Schlaf, Ernährung. Dies ist offensichtlich eine neue Rolle für ärztliche Kompetenz im Beisein der eher gesunden Versicherten, nicht gekoppelt an einen festen Praxisstandort und die Vertragsarzttätigkeit.
Phänomen Fernbehandlung: Auszehrung der Regelversorgung?
Bedingt durch die neuen digitalen Möglichkeiten der ausschließlichen Fernbehandlung, weiten die Krankenkassen ihr Angebot an telemedizinischer Beratung durch eigenen Ärztezentren aus. Sie bieten Behandlungen, die nach Ansicht der Bundesärztekammer die bestehenden Versorgungsstrukturen der an den Praxisort anknüpfenden Regelversorgung umgehen.
Ein Beispiel dafür ist das Vorgehen der Techniker Krankenkasse, wie Medscape bereits im September 2020 berichtete. Indirekt könnte dies der Weg einer Kasse hin zum Gesundheitsdienstleiser für Gesunde und Kranke sein.
So hat die Krankenkasse für das Angebot einen Selektivvertag nach § 140 SGB V mit der IFE Gesundheit GmbH geschlossen. 6 Vertragsärzte aus Schleswig-Holstein bilden nun den Kern des Teams für die TK-Onlinesprechstunde. Ein Ausbau wird entsprechend der Nachfrage von den Verantwortlichen nicht ausgeschlossen.
Die ersten Schritte hin zu einer digitalen Versorgung
Damit wird deutlich, dass es jetzt schon möglich ist, sich neue digitale Strukturen außerhalb des Praxisstandortes und teuren Infrastruktur aufzubauen. All dies sind erst die ersten Schritte einer neuen digitalbasierten Versorgungsstruktur.
Für eine umfassende Existenzgrundlage der beteiligten Medizinerinnen und Mediziner reicht es aber nicht – doch wer weiß, wie lange das noch gilt, wenn das Angebot weiter ausgebaut wird?
Dieser Artikel ist im Original erschienen am 16. April 2022 auf Coliquio.de .
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Diesen Artikel so zitieren: Der Doktor als Life Coach statt Behandler: Wie die Digitalisierung im Gesundheitswesen die Rolle des Arztes verändert - Medscape - 20. Apr 2022.
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