Beim Hüftgelenkersatz ist Deutschland Spitzenreiter: Laut Statistischem Bundesamt wurden 2020 mehr als 220.000 künstliche Hüftgelenke implantiert. Nur in der Schweiz wurden mehr künstliche Hüftgelenke pro Einwohner eingesetzt. Berücksichtigt man die Altersstruktur, nimmt Deutschland im Ranking Platz 5 ein – hinter der Schweiz, Norwegen, Österreich und Luxemburg.
Die Zahl der Operationen in Deutschland steigt seit Jahren: 2013 waren es noch 210.348 Hüfttotalendoprothesen (HTEP), 2014 bereits 219.325 und 2019 schließlich 243.477; das entspricht einem Anstieg von 15% von 2013 auf 2019.

Prof. Dr. Hanno Steckel
©: Till Budde
Woran liegt das? Wie oft kann eine Wechsel-Operation durchgeführt werden? Nimmt der Anteil jüngerer Patienten zu? Wird in Deutschland zu schnell operiert? Über diese und andere Fragen sprach Medscape mit Prof. Dr. Hanno Steckel, Ärztlicher Leiter des MVZ-VITALIS, einem Zentrum für Orthopädie und Schmerztherapie in Berlin. Steckel hat kürzlich den Patientenratgeber „Schmerzfreie Hüfte. Alle Alternativen zur OP ausschöpfen und ihr Hüftgelenk gezielt trainieren“ (TRIAS, 2022) veröffentlicht.
Medscape: Sie sagen, dass die konservative Therapie immer ausgeschöpft werden sollte, bevor gelenkerhaltende und – als letzte Option – gelenkersetzende Operationen in Betracht gezogen werden. Heißt das, dass zu schnell operiert wird?
Steckel: Nein, das heißt es im Umkehrschluss nicht. Aber es ist wichtig, dass diese Stufen durchlaufen werden. Das ist natürlich nicht immer 1 zu 1 umzusetzen.
Nehmen wir als Beispiel eine 79 Jahre alte Dame mit einem komplett zerstörten Hüftgelenk, die keinen stabilen Gesundheitszustand aufweist – da wird man natürlich schneller ein künstliches Hüftgelenk in Erwägung ziehen als bei einem Patienten, der 55 Jahre alt ist und bei dem man bedenken muss: Wenn dieser Patient schon jetzt ein neues Hüftgelenk bekommt, dann kommt er möglicherweise noch mal in seinem Leben in eine Wechsel-Operation hinein. Bei einem solchen Patienten wäre es gut, wenn er noch etwas Zeit gewinnt.
Mit berücksichtigt werden das Lebensalter, aber auch die Begleiterkrankungen. Was man vermeiden möchte, sind Operationen, die in einem sehr jungen Lebensalter stattfinden, so dass sich diese Patienten einer Wechsel-Operation unterziehen müssen. Denn der Hüftgelenkersatz hält nicht ewig, solche Implantate haben eine gewisse Standzeit.
Medscape: Die magische Schwelle für einen Hüftgelenksersatz liegt bei 60 Jahren. Weshalb?
Steckel: Man möchte gerne, dass Patienten für ein künstliches Hüftgelenk 60 Jahre alt sind, so dass sie nach Möglichkeit keine Wechsel-Operation benötigen. Das ist allerdings nicht immer so einfach durchzuhalten. Und das liegt jetzt nicht daran, dass die Orthopäden zu schnell operieren. Es hat auch damit zu tun, dass der Hüftgelenkersatz sehr erfolgreich eingesetzt wird. Es handelt sich dabei um die erfolgreichste orthopädische Operation, im Lancet wurde sie 2009 als „Operation des Jahrhunderts“ bezeichnet.
Wenn jetzt ein Familienvater mit 55 Jahren schon eine deutliche Arthrose aufweist, dann ist diesem schwer zu vermitteln, dass er 5 Jahre lang ein bisschen weniger machen soll. Denn er ist 55, will vielleicht mit seinen Kindern noch aus dem Haus gehen, will Sport treiben, dieser Mensch hat vielleicht auch beruflich noch etwas vor. Insofern ist das immer sehr schwierig, denn dieser Mensch fällt in die Gruppe, die dann möglicherweise von einer Wechsel-Operation betroffen ist.
Auf der anderen Seite liefert die Hüftprothese so gute Ergebnisse – und das wissen die Patienten ja auch, so dass es schwierig ist, einen solchen Patienten zum Zeitgewinn zu bewegen.
Medscape: Sie raten einem Patienten, der jünger ist als 60 Jahre, nicht von der Operation ab, oder?
Steckel: Nein. Ich finde es allerdings wichtig, dass solche Patienten eine Physiotherapie durchlaufen haben, dass sie eine Zeit lang konservativ behandelt wurden, vielleicht auch Hyaluronsäure-Spritzen erhalten haben.
Wenn aber – um bei dem Beispiel zu bleiben – der 55-Jährige ein halbes Jahr lang Physiotherapie gemacht hat und schon ein paar Spritzen bekommen hat und dann feststellt: „Ich kann nur eingeschränkt eine kurze Strecke gehen, ich kann schlecht sitzen, ich kann keinen Sport treiben“ – dann würde ich sagen: „Dieser Patient hat das konservative Stadium durchlaufen.“
Dann muss man sich mit diesem Patienten zusammensetzen und die Vor- und Nachteile einer solchen Operation besprechen. Entscheiden muss letztendlich der Patient. Denn der Patient – heute noch mehr als früher – ist ja der mündige Gesprächspartner und soll entscheiden. Er kann sich auch eine Zweitmeinung einholen, das ist auch häufig sinnvoll.
Man kann nur die Vor- und Nachteile aufzeigen. Der Nachteil ist, dass man möglicherweise eine Wechsel-Operation hat mit Anfang 70. Der Vorteil ist natürlich, dass man ein schmerzfreies Gelenk hat, mit dem man wieder aktiv sein und sogar Sport treiben kann.
Medscape: Mit welchen Risiken ist eine solche Wechsel-Operation behaftet?
Steckel: Eine Wechsel-Operation ist grundsätzlich mit einem höheren Operationsrisiko behaftet. Die Prothese muss ja entfernt werden, und selbst wenn sie vermeintlich locker sitzt, ist das nicht so, als ob sie sich einfach herausziehen ließe. Häufig wird durch die Wechsel-Operation auch der Knochen in Mitleidenschaft gezogen – es gibt ein größeres Risiko für Knochen-Weichteilverletzungen.
Insofern ist das nichts, was man gerne macht. Aber wie gesagt – es ist eine Abwägung. Es weiß ja auch keiner, wie alt er wird: Man kann auch mit Anfang 70 schon schwer krank sein, und dann war die Zeit davor – die man dank Prothese noch sehr aktiv verbringen konnte – noch wichtiger. Das ist immer eine Abwägungssache.
Von der Grundtendenz gehen wir davon aus, dass ein Patient heutzutage ein Alter von über 80 Jahren erreicht. Und so werden die Standzeiten der Hüftimplantate auch kalkuliert.
Medscape: Wie oft kann eine solche Wechsel-Operation durchgeführt werden?
Steckel: Patienten fragen das sehr häufig. Die Zahl der Wechsel-Operationen ist nicht begrenzt. Es ist also nicht so, dass man nur ein- oder zweimal operieren kann. Es gibt beispielsweise Patienten, die einen unglücklichen Verlauf mit Infektionen haben, bei denen muss auch vier-, fünfmal gewechselt werden – das ist natürlich nicht das Ziel, aber in solchen Fällen leider notwendig.
Medscape: Wie oft wird gelenkerhaltend operiert? Wie hat sich der Anteil von gelenkerhaltenden OPs in den letzten Jahren entwickelt?
Steckel: Gelenkerhaltende Operationen werden am Hüftgelenk seltener durchgeführt als beispielsweise am Kniegelenk. Es ist auch so, dass die gelenkerhaltenden Operationen, die das Hüftgelenk retten oder bewahren können, eher in der Kindheit und Jugend stattfinden.
Ein Beispiel dafür ist die Hüftdysplasie: Zur Therapie verändert man die Beckenstellung und die Stellung des Oberschenkelhalses, damit das Gelenk eine bessere Überdachung hat.
Ein weiteres Beispiel ist Morbus Perthes – die Nekrose des Hüftkopfes bei Kindern. Dabei ändert man die Stellung, damit das Gelenk trotz dieser Erkrankung eine gute Form behält.
Beides sind allerdings Erkrankungen, die man am besten im Kindes- und Jugendalter behandelt – wenn die Patienten 55 Jahre alt sind, dann sind die Möglichkeiten einer gelenkerhaltenden Operation des Hüftgelenks schon begrenzt.
Eingesetzt wird beispielsweise die Hüft-Arthroskopie, also die Gelenkspiegelung, über die sich z.B. freie Gelenkkörper und entzündete Schleimhaut entfernen lassen. Handelt es sich allerdings um eine reine Arthrose, dann ist die Gelenkspiegelung am Hüftgelenk nicht so erfolgreich. Sinnvoll ist sie dann, wenn es Begleitthemen gibt – wie Gelenkblockierungen, freie Gelenkkörper, Schäden der Gelenklippe und ähnliches.
Deshalb ist die Prävention – also z.B. der Hüft-Ultraschall in der 5. Lebenswoche, die U3-Untersuchung – sehr wichtig. Ich hatte gerade heute eine Patientin, die ist 26 Jahre alt, sie ist irgendwie durch dieses Screening gerutscht, es wurde bei ihr nicht gemacht. Sie hat eine schlimme Hüftdysplasie und muss jetzt gelenkerhaltend operiert werden. Mit 26 Jahren ist das ein ungünstiger Zeitpunkt, man steht am Ende des Studiums oder mitten im Beruf.
Medscape: 15% der Patienten mit Hüftgelenkersatz sind bei der Operation jünger als 60 Jahre. Hat der Anteil dieser jüngeren Patienten über die letzten Jahre zugenommen?
Steckel: Dieser Anteil hat ein bisschen zugenommen. Das hängt aber auch mit dem Anspruch an sich selbst zusammen. Früher war das so: Der Patient, der ein neues Hüftgelenk oder auch Kniegelenk brauchte, der wollte im Grunde seine Fähigkeit zur Alltagsaktivität wiedererlangen.
Heute geht es aber nicht mehr nur um Alltagsaktivität, es geht um Sportfähigkeit. Die Patienten sind sehr aktiv, sie wollen Sport treiben, sie wollen Golf spielen, Ski laufen, Tennis spielen, das sind häufig sehr sportive Menschen, die einen hohen Anspruch haben und das auch fordern.
Als Ärzte orientieren wir uns an den Leitlinien. Und darin ist niedergelegt, dass vor einer solchen Operation eine konservative Therapie durchlaufen sein muss. Ist diese aber durchlaufen und der Patient sagt, ich will das so nicht mehr, und die Indikation liegt vor – Coxarthrose Grad 4 – dann wird dieser Patient, wenn er das möchte, auch ein neues Hüftgelenk bekommen, das ist auch leitliniengerecht.
Ein anderes Beispiel: Eine 35 Jahre alte Frau erleidet infolge eines Verkehrsunfalls eine Beckenringfraktur. Diese Patientin erhält selbstverständlich ein neues Hüftgelenk, da würde man natürlich nicht warten. Das Alter wird beim Thema Hüftgelenkersatz als ganz wichtiges Thema immer in Betracht gezogen, aber letztendlich zählt natürlich auch der Arthrosegrad.
Medscape: Wird eine hochwertige konservative Therapie von den Krankenkassen entsprechend bezahlt?
Steckel: Es gibt hochwertige konservative Therapien – das Problem ist der Zugang für die Patienten. Es ist für sie sehr schwer, eine Therapie zu bekommen, weil wir einen Mangel an Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten haben.
Ein Standard-Rezept umfasst 18 Behandlungen, das ist schon mal ein Anfang. Aus Sicht der Kassen sollten die Behandlungen eine Anleitung zum Selbst-Trainieren sein. Aber das Problem ist eben, dass der Zugang durch den Mangel an Physiotherapeuten erschwert ist.
Medscape: Es gibt ja seit 10 Jahren das Endoprothesenregister Deutschland (EPRD). Welchen Beitrag leistet dieses Register zur Qualitätssteigerung in der Endoprothetik?
Steckel: Das sind 2 Aspekte.
Der erste: Das Register filtert heraus, wenn eine Prothese auffällig ist, sie beispielsweise eine hohe Versagerrate hat. Es gab vor mehreren Jahren diese Kappen-Prothesen, dabei wurde der Hüftkopf überkront, die Variante hat sich als nicht sehr erfolgreich erwiesen. Mithilfe des Registers konnte das recht schnell herausgefiltert werden, die Prothese wird inzwischen nicht mehr eingesetzt. Mithilfe des Registers können Patienten auch nachverfolgt werden. Sieht man beispielsweise, dass eine Prothese auffällig ist, kann man alle Patienten anschreiben, denen diese Prothese eingesetzt worden ist und diese Patienten nachuntersuchen.
Aber der Hauptvorteil des Endoprothesenregisters ist, dass – ähnlich wie bei den Brustkrebszentren – nur noch Spezialisten die Gelenkersatz-Operationen durchführen. Jeder Operateur muss mindestens 50 Gelenkersatz-Operationen pro Jahr durchführen, um seine Zertifizierung zu behalten, er muss Fortbildungen absolvieren, die Praxis oder die Klinik, in der er tätig ist, wird begutachtet – all das zusammen gewährleistet schon einen hohen Qualitätsstandard.
Damit will man unterbinden, dass kleine Abteilungen niedrigschwellige Operationen anbieten. Denn man weiß, dass die Anzahl der durchgeführten Operationen ein ganz wichtiges Kriterium ist. Die Orthopäden, die eine hohe Schlagzahl bei diesen Eingriffen haben, weisen bessere Ergebnisse auf.
Medscape: Ein Blick auf die regionale Verteilung zeigt ein interessantes Bild: Je weniger niedergelassene Orthopäden in einer Region tätig waren und je höher der sozioökonomische Status, desto häufiger wurde eine HTEP von den Versicherten in Anspruch genommen. Wie bewerten Sie das?
Steckel: Die Ursachen sind hier multifaktoriell. Es kann sein, wenn wenige niedergelassene Orthopäden in einer Region sind, dass dann wenig konservativ behandelt wird und die Patienten eben schneller z.B. vom Allgemeinmediziner ins Krankenhaus geschickt werden.
In den Krankenhäusern wiederum wird eher schneller operiert. Kliniken stellen keine Rezepte z.B. für Physiotherapie aus, sie haben schließlich keine Kassenzulassung für eine ambulante Behandlung. Als Patient kann man sich in der Hüftprothesen-Sprechstunde eines Krankenhauses beraten lassen, aber wenn der Patient schon da ist, wird auch eher zur Operation geraten.
Es ist wichtig, dass eine Region ein Netz von niedergelassenen Orthopäden aufweist, denn das sind diejenigen, die die ambulante und primär eben auch konservative Versorgung gewährleisten.
Medscape: Arthrose ist die häufigste Gelenkerkrankung weltweit. Was kann man denn selbst zur Prävention beitragen?
Steckel: Es ist ein Alarmzeichen, dass die Hüftprothesen-Operationen in Deutschland zunehmen, aber das hat eben – wie aufgeführt – verschiedenste Gründe.
Den Fokus auf die konservative Therapie zu legen, ist sehr wichtig. Das andere nenne ich den Ortho-TÜV: Dazu gehört, dass in der Kindheit unbedingt die U3-Untersuchung wahrgenommen wird, dass man Übergewicht reduziert und Erkrankungen und Verletzungen im Hüftbereich frühzeitig behandeln lässt, eben damit sich möglichst keine Arthrose entwickelt.
Zur Prävention gehört auch, dass man achtsam mit sich umgeht und nicht etwa sein Auto oder seine Espressomaschine besser wartet als seinen eigenen Körper. Arthrose ist eine Volkskrankheit: Wenn Sie 60 überschritten haben, hat jede 2. Frau und jeder 3. Mann bereits eine Arthrose.
Einem Patienten mit beginnender Arthrose raten wir zu speziellen Übungen, um das Hüftgelenk gezielt zu trainieren. Und wir raten dazu, Übergewicht – den größten Risikofaktor für Arthrose – zu reduzieren. Man muss sich klar machen: Wenn man z.B. Treppen steigt, dann lastet das Sechsfache des Körpergewichts auf den Gelenken. Bei einem Gewicht von über 100 Kilogramm macht das sehr viel aus. Wer es schafft, sein Gewicht zu reduzieren, der kommt mit seinem Hüftgelenk auch mal erst wieder klar, selbst wenn es sich dabei bereits um eine mittelgradige Arthrose handelt.
Der Weg, der bei beginnender Arthrose beschritten wird, sieht so aus: Physiotherapie und selbst regelmäßig die Übungen machen; wenn operiert werden muss, dann nach Möglichkeit gelenkerhaltend. Der Hüftgelenkersatz steht – in der Regel – erst am Ende der Behandlung.
Medscape: Herzlichen Dank für das Gespräch.
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Diesen Artikel so zitieren: Hüftgelenkersatz – wird in Deutschland zu schnell operiert? Ein Experte diskutiert das optimale Alter und mögliche Alternativen - Medscape - 13. Apr 2022.
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