Besser keine Vollnarkose – als Schutz vor Delir nach Hüft-OP? Studie findet bei Senioren keinen Vorteil durch Regionalanästhesie

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

12. April 2022

In den Tagen nach einer Hüftfraktur-OP scheint vielen älteren Menschen die Welt aus den Fugen geraten: Sie sehen seltsame, oft bedrohliche Erscheinungen, haben das Gefühl für Raum und Zeit verloren, schlafen tags und wachen nachts – typische Zeichen eines postoperativen Delirs.

Immer wieder gab es Überlegungen, ob die Störung sich vielleicht zurückdrängen lässt, wenn die Allgemein- durch eine Regionalanästhesie ersetzt wird. Doch nun berichten chinesische Forscher: Diese Variante bringt keinen Vorteil, nicht einmal bei zusätzlichem Verzicht auf Sedativa [1].

„Die Studie ist methodisch gut gemacht und hat einige Stärken, trotzdem besteht die Möglichkeit, dass psychische Faktoren die Ergebnisse verzerren“, gibt Prof. Dr. Claudia Spies bei einem Telefonat mit Medscape zu bedenken.

Die Leiterin des Charité-Centrums für Anästhesiologie in Berlin erläutert: „Wer für die Regionalanästhesie randomisiert wurde, der wusste: Jetzt galt es, die Operation bei vollem Bewusstsein durchzustehen. Viele bekommen dann Angst. Und Angst wiederum ist als wichtiger Auslöser des Delirs bekannt. Das könnte die Rate bei dieser Gruppe in die Höhe getrieben haben.“ Um solchen „Confoundern“ auf die Spur zu kommen, wäre nach ihrer Ansicht unter anderem die Bestimmung eines Angst-Scores ratsam gewesen.

Hüftfrakturen – die Prognosen sind düster

In Deutschland erleiden jährlich etwa 140 pro 100.000 Einwohner eine Hüftfraktur, vorwiegend Frauen, zumal Hochbetagte, entweder wenn sie hinfallen oder „einfach so“, wenn die Knochen durch Osteoporose geschwächt sind.

Fast immer ist die Reparatur dann Aufgabe der Chirurgen: In leichteren Fällen fixieren sie den Hüftkopf mit Metallstiften und -platten, bei komplizierten Brüchen setzen sie ein künstliches Gelenk ein. 2018 erfolgten in Deutschland rund 120.000 solcher Eingriffe, doch rechnen Epidemiologen wegen des demografischen Wandels mit einem deutlichen Anstieg.

Vor allem ältere Menschen durchleben postoperativ ein Delir – wörtlich „aus der Spur“. Charakteristisch sind Halluzinationen und Wahnvorstellungen, Verwirrtheit und verschobener Schlaf-Wach-Rhythmus. Manche reagieren hyperaktiv mit Unruhe und Aggressionen, andere hypoaktiv mit Verängstigung und Rückzug, bei Mischtypen wechseln beide Verhaltensweisen. Auch der Verlauf schwankt: Mal scheinen die Patienten völlig desorientiert, dann wieder klar.

Die kognitiven Defizite bleiben oft bestehen

Viele brauchen von da an eine Betreuung, weil die Einbußen chronisch werden, weshalb auch die Bezeichnung „Durchgangssyndrom“ als unzutreffend aufgegeben wurde. Die Sterblichkeit ist ebenfalls erhöht.

Dieses neuropsychiatrische Phänomen tritt besonders nach Notfall-Eingriffen auf, wenn keine Vorbereitung möglich ist, etwa durch optimierte Ernährung und Aufbau von Fitness – Stichwort Prähabilitation.

Kritisch sind weiterhin Gebrechlichkeit, vorbestehende Erkrankungen und kognitive Defizite sowie Medikamente, die in den Hirnstoffwechsel eingreifen, Daher standen auch Anästhetika im Verdacht, wie Dr. Ling Ti von der Universität der 10-Millionen-Stadt Wenzhou und seine Kollegen darlegen.

Kann die Streichung von Sedativa das Blatt wenden?

Mit RAGA – Regional Anesthesia versus General Anesthesia – greifen die Autoren eine Studie auf, die keinen Nutzen einer verringerten Dosis – das heißt mit Regionalanästhesie – im Vergleich zur Vollnarkose gefunden hatte. Allerdings waren ergänzend die stark Delir-assoziierten Sedativa Ketamin oder Midazolam angewandt worden.

Könnte also das zusätzliche Weglassen dieser Substanzen ein „Game Changer“ sein? Um das zu untersuchen, randomisierten sie 950 Patienten mit Brüchen von Schenkelhals, Hüftkopf oder Trochanter – zu 3 Viertel Frauen – aus 9 Unikliniken im Südosten Chinas.

Die Patienten mit Spinal- oder Epiduralanästhesie profitierten jedoch keineswegs: 6,2% hatten in der Woche nach der Operation mindestens ein Delir, mit Vollnarkose waren es 5,1%. Innerhalb eines Monats starben 8 gegenüber 4.

Auf der ganzen Linie kein Vorteil für die Regionalanästhesie

Auch andere Parameter fielen nicht günstiger aus: weder die Zahl der Episoden noch der Schweregrad, gemessen mit der Delirium Rating Scale-Revised-98. Und in beiden Gruppen dauerte der Klinikaufenthalt median 7 Tage.

 
Die Studie ist methodisch gut gemacht und hat einige Stärken, trotzdem besteht die Möglichkeit, dass psychische Faktoren die Ergebnisse verzerren. Prof. Dr. Claudia Spies
 

„Auffallend ist die geringe Inzidenz des Delirs. In der Literatur dagegen liegen die entsprechenden Werte eher bei 40%“, stellt Spies fest. Möglicherweise handele es sich um eine Unterschätzung: „Ein Pluspunkt ist zwar, dass die Mitarbeiter in der Anwendung der Confusion Assessment Method CAM geschult wurden. Aber sie haben die Daten nur einmal täglich erhoben, zweimal wäre verlässlicher gewesen.“

Spies erklärt: „Denn kennzeichnend für ein Delir ist ja gerade das Fluktuieren, oft mit einer Verschlechterung gegen Abend. Optimal ist deshalb die Präsenz kompetenter Pflegekräfte, die mindestens einmal in jeder Schicht eine Delir-Messung per Score machen.“

Schwer nachvollziehbar: Hoher Anteil schmerzfreier Patienten

Spies verweist weiterhin darauf, dass die Regionalanästhesie bei den Nebenwirkungen tendenziell schlechter abschnitt als die Vollnarkose: 44% zu 33% der Patienten litten an Übelkeit und Erbrechen, 12% zu 10% an Hypotonie.

Sie fügt hinzu: „Ungewöhnlich für das Befinden nach einer Hüftfraktur-OP kommt mir außerdem vor, dass die Hälfte der älteren Menschen nach der Visual Analog Scale VAS offenbar keine Schmerzen empfand. Und dass kein einziger ,worst pain‘ angegeben hat. Dabei muss man berücksichtigen, dass diese Skala für Demenz-Patienten nicht empfohlen wird, die ja einen Anteil von 40% ausmachten.“

 
Auffallend ist die geringe Inzidenz des Delirs. Prof. Dr. Claudia Spies
 

Umgekehrt hält sie es für problematisch, dass die Kognition durchgängig mit dem Mini Mental Status Test gemessen wurde: „Der MMST eignet sich nur zur Diagnostik einer Demenz“, stellt sie klar.

Gebrechlichkeit scheint in China weniger verbreitet

Die Autoren selbst führen andere Gründe für die niedrige Delir-Rate an: Die Teilnehmer seien noch relativ jung – durchschnittlich 77 Jahre – und gesund gewesen, außerdem vergleichsweise wenig gebrechlich – was die Bevölkerung in China allgemein vor vielen einkommensschwächeren Regionen oder den USA auszeichne. Und sie stammten meist aus ländlichen Gebieten, wo Gebrechlichkeit noch einmal seltener vorkommt als in Städten.

Einen weiteren Aspekt heben die Forscher hervor: „In der chinesischen Kultur wird die Behandlung nach einer Operation einschließlich Pflege, Ernährung, Atemübungen und Physiotherapie oft von nahen Angehörigen geleistet.“ Solche Fürsorge trage entscheidend zur Prävention bei.

Angehörige bauen eine Brücke zur Realität

Spies stimmt voll zu: „Wir nutzen einen anerkannten Ansatz, der ebenfalls die Familie einbezieht, das modified Hospital Elder Life Program mHELP.“ Das Konzept: Zunächst begutachtet eine psychogeriatrische Fachkraft die Patienten und ergreift dann Maßnahmen, um Orientierung, Kognition, Mobilisierung, Essen und Schlaf zu verbessern.

 
Ungewöhnlich für das Befinden nach einer Hüftfraktur-OP kommt mir außerdem vor, dass die Hälfte der älteren Menschen … offenbar keine Schmerzen empfand. Prof. Dr. Claudia Spies
 

Konkret: Sie ermuntert die alten Leute zum Aufstehen, begleitet sie zu den Mahlzeiten, achtet auf Brille, Hörgerät und Zahnprothese, gibt ihnen Uhr und Kalender und bestärkt die Angehörigen, mit ihrer Anwesenheit, Gesprächen, Vorlesen oder Spielen Sicherheit und zugleich geistige Anregung zu schaffen. Studien bestätigen, wie sehr dies die alten Menschen „erdet“: Die Delir-Rate sinkt erheblich.

 
Patienten und Ärzte haben nun die Gewissheit, dass sie mit einer Vollnarkose oder Sedierung bei Eingriffen wegen Hüftfrakturen … keine Delirien provozieren. Prof. Dr. Michael S. Avidan
 

In ihrem Editorial [2] beurteilen Prof. Dr. Michael S. Avidan von der Universität St. Louis und seine Ko-Autoren die RAGA-Ergebnisse von einer ganz anderen Warte: „Patienten und Ärzte haben nun die Gewissheit, dass sie mit einer Vollnarkose oder Sedierung bei Eingriffen wegen Hüftfrakturen und eventuell anderen Indikationen keine Delirien provozieren.“ Für glaubwürdiger halten sie, dass Komorbiditäten wie kardiovaskuläre Erkrankungen die Störung begünstigen.

Leitlinien empfehlen die Regionalanästhesie

RAGA stehe damit im Einklang mit anderen Studien, etwa zum Ersatz einer Bypass-Operation unter Vollnarkose durch perkutane Revaskularisierung oder zur Verkürzung tiefer Narkose durch EEG-Steuerung – Delirien ließen sich damit nicht vermindern.

Spies jedoch wendet ein, dass diese Studien wegen methodischer Mängel wenig aussagekräftig sind. Zudem lassen sich die RAGA-Ergebnisse nach ihrer Einschätzung nicht auf andere OP-Indikationen übertragen: „Patienten mit Hüftfrakturen bilden ein sehr spezielles Kollektiv, bei dem viele Faktoren eine Rolle spielen, zum Beispiel, warum es überhaupt zu einem Sturz gekommen ist.“

Insofern könnte es durchaus gerechtfertigt sein, dass Leitlinien – wenn auch mit aller Vorsicht – eine Empfehlung für die Regionalanästhesie ausgesprochen haben.
 

Kommentar

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