Seit Anfang 2020 müssen die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) der Länder im Rahmen ihres Sicherstellungsauftrages rund um die Uhr unter der Patientenservice-Nummer 116 117 ein Ersteinschätzungssystem anbieten, zum Beispiel „SmED“ (Strukturierte medizinische Ersteinschätzung). Es sollte auch helfen, die Notaufnahmen der Krankenhäuser zu entlasten. Hat das geklappt?
Mitte März hat das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi) erste Daten zur bundesweiten Auswertung der Patientenservice-Nummer 116 117 unter Einsatz des SmED-Systems in Deutschland vorgelegt. Damit wisse man nun erstmals wochen- und monatsaktuell, aus welchen Gründen und wann die Anrufer die 116 117 gewählt haben.
„Die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, wie sehr wir auf ein aktuelles Lagebild angewiesen sind“, sagt Dr. Lars Eric Kroll vom Zi. Ohne die neuen Daten müsste man auf die Abrechnungsdaten warten, um ein Lagebild zu erhalten – und das dauert Monate.
„Für das 1. Quartal 2022 können die Daten zunächst nur mit einer mehrwöchigen Verzögerung abgebildet werden“, so das Zi. „Ab Mai 2022 ist die Umstellung auf eine tägliche Aktualisierung der Daten geplant.“
Im Einzelnen:
2021 sind 1.219.447 Anrufende bei der 116 117 per SmED ersteingeschätzt worden, hat das Zi ermittelt.
Im Durchschnitt dauerte die telefonische Ersteinschätzung 2,5 Minuten.
In dieser Zeit stellten die Fachpersonen mit Hilfe der Software SmED durchschnittlich 17,8 Fragen und dokumentierten pro Anrufer durchschnittlich 1,5 Beschwerden.
Nur 3,1% klare Notfälle
Im Ergebnis sind 2021 nur 3,1% (37.803) der Anrufenden als medizinische Notfälle erkannt worden. Dies ziehe in der Regel die sofortige Weitergabe an den Rettungsdienst (Rufnummer 112) nach sich.
Aufgrund der am Telefon geschilderten Symptome wurde die Mehrheit der Anrufer zum niedergelassenen Arzt geschickt, wo sie die Praxis entweder innerhalb von 24 Stunden aufsuchen sollten (rund 35%) oder ohne Dringlichkeit die nächste Gelegenheit für einen Arztbesuch nutzen sollten (19,5%, das sind 237.792 Empfehlungen).
Wie es den Patienten weiter ergangen ist und ob sich die Einschätzungen durch die Fachpersonen am Telefon als richtig erwiesen haben, ist noch unklar. „Eine Zusammenführung mit den Daten der nachfolgenden medizinischen Versorgung ist noch nicht möglich“, so das Zi.
Mit fast 9% waren Erbrechen und Übelkeit der Grund für die Anrufer, die 116 117 zu wählen, gefolgt von Fieber (rund 7,75%) und Bauchschmerzen (rund 7%).
Wie nicht anders zu erwarten, riefen die Patienten in der Zeit von Samstag-Mittag bis Sonntag-Abend am häufigsten an, und zwar zwischen 9 und 11 Uhr. Darüber waren die Nachmittage dieser Tage und der Mittwoch-Nachmittag besonders frequentiert. Kurz: die 116 117 wird immer dann angerufen, wenn die Praxen zu sind.
Derzeit finden im Monat rund 130.000 Einschätzungen per SmED statt. „Auf dieser Grundlage können wir mit unserem neuen Informationssystem nahezu in Echtzeit Veränderungen bei gesundheitlichen Beschwerden erkennen, wegen der sich die gesetzlich Versicherten an die Rufnummer 116 117 wenden. So lassen sich zum Beispiel Rückschlüsse auf das Infektionsgeschehen in Deutschland ziehen“, sagt der Zi-Vorstandsvorsitzende Dr. Dominik von Stillfried.
„Zudem sind tageszeitliche und saisonale Muster erkennbar. Wir hoffen deshalb, dass diese Daten in Zukunft auch genutzt werden können, um relevante Entwicklungen frühzeitig zu erkennen. Dadurch könnten Einrichtungen der medizinischen Versorgung wirksam vorbereitet werden. Für die Versorgungsforschung, in der bundesweite Daten in der Regel erst nach Monaten und Jahren zur Verfügung stehen, ist dies ein wirklicher Quantensprung“, so von Stillfried.
Das Informationssystem der Zi zur 116 117 schließe die Lücke in der Echtzeit-Surveillance im deutschen Gesundheitswesen, resümiert Kroll.
Die KVen wissen nicht, ob SmED unter 116 117 den Notaufnahmen nützt
Die Ersteinschätzung der Anrufer über das Fragensystem sollte aber auch die Notaufnahmen der Krankenhäuser entlasten. In dem Terminservice- und Versorgungsgesetz vom Mai 2019 werden die KVen verpflichtet, ab Beginn des Jahres 2020 rund um die Uhr einen Notfall-Service bereit zu halten – die 116 117. Hat sich seither die Lage in den oft überfüllten Notaufnahmen der Krankenhäuser entspannt?
Medscape hat stichprobenartig bei einigen KVen nachgefragt.
Die KV Hamburg meldet auf Anfrage, die Evaluation der entsprechenden Zahlen sei durch die Corona-Pandemie unterbrochen worden – dauere aber weiterhin an. Die Pandemie hat wahrscheinlich dazu geführt, dass die Patienten seltener die Notaufnahmen aufgesucht haben. „Eine Auswertung erster Daten aus dem Jahr 2019 zeigte, dass – im Gegensatz zum bundesweiten Trend – in Hamburg die Fallzahlen der ambulanten Fälle in den zentralen Notaufnahmen (ZNA) tatsächlich gesunken, während die Fallzahlen in den Notfallpraxen der KV an den Krankenhausstandorten gestiegen sind“, sagte KVH-Sprecher Jochen Kriens – allerdings ohne Zahlen zu nennen. Kriens bleibt zuversichtlich: „Es gibt Indizien, die dafür sprechen, dass sich dieser Trend auch in der Folgezeit fortgesetzt hat.“
Auch die KV Bayern (KVB) erklärt, noch keine konkreten Zahlen zur Verfügung zu haben, „auch weil diese durch die Pandemie und eines damit verbundenen starken Rückgangs der Fallzahlen ab 2020 erheblich beeinflusst sind“, so Michael Stahn von der KVB. Allerdings tue die Einrichtung von KV-Notfallpraxen an Bayerischen Kliniken das Ihre. Zwischen 2018 und 2020 sind die Fälle um 15% gesunken, erklärt Stahn.
Konkreter wird Luisa Ihle, Sprecherin der KV Thüringen. „Die Behandlungsfälle in den Notaufnahmen sind von 275.000 im Jahr 2016 auf 220.000 im Jahr 2019 gefallen. Im ersten Jahr der Corona-Pandemie, 2020, folgte ein weiterer deutlicher Rückgang auf 193.000“, so Ihle. Dieser Trend zeichnet sich auch für das Jahr 2021 ab: Im 1. Halbjahr 2021 sank die Zahl der Behandlungsfälle in den Thüringen Notaufnahmen auf 85.933.
Eine ähnliche Tendenz in Niedersachsen. Hier lassen sich bisher nur die Zahlen der ersten 3 Quartale aus den Jahren 2020 und 2021 vergleichen: In diesem Zeitraum sank die Inanspruchnahme der Notaufnahmen im Land von 641.245 auf 609.416 Fälle.
Fazit: Die Fälle in den Notaufnahmen der Krankenhäuser gehen seit 2020 zurück. Ob diese Tendenz auf die Corona-Pandemie oder auf die Einführung des SmED-Systems bei der 116 117-Notrufnumer zurückzuführen ist, ist unklar.
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Diesen Artikel so zitieren: Das Notfall-Einschätzungssystem „SmED“ funktioniert am Telefon – aber dient dies den Notaufnahmen? - Medscape - 6. Apr 2022.
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