Droht bald ein Infarkt? Merkmale der Stimme, die man nicht wahrnimmt, sondern nur per Computer erkennt, könnten dazu beitragen, Personen mit bestätigter oder vermuteter Herzerkrankung zu identifizieren, die in den nächsten Jahren ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse haben [1,2].
Ihre Arbeit sei die aktuellste Studie zur möglichen Rolle von „Stimm-Biomarkern“, sprich akustischen Merkmalen, die durch Algorithmen und maschinelles Lernens dazu beitragen können, Herz-Kreislauf-Risiken zu bewerten, schreiben die Autoren. Sie hoffen, ihre Ergebnisse hätten Auswirkungen auf die nicht-invasive Risikostratifizierung und die Telemedizin in der Kardiologie.
Noch kein eigenständiges diagnostisches Instrument
Für die Studie wurden Sprachaufnahmen von 108 Patienten verarbeitet und je nach Ausprägung des Biomarkers mit einer Punktzahl versehen. Patienten mit Werten im oberen Drittel hatten ein 2,6-fach höheres Risiko, ein akutes Koronarsyndrom zu entwickeln oder innerhalb von 24 Monaten mit Schmerzen in der Brust ins Krankenhaus zu kommen als Patienten mit Werten in den unteren zwei Dritteln. Personen der 1. Gruppe hatten auch ein dreifach höheres Risiko für einen positiven Stresstest oder eine koronare Herzkrankheit (KHK) bei der Angiographie.
„Ich würde sagen, dass diese Sprachanalyse-Technologie kein eigenständiges diagnostisches Instrument ist“, erklärte Jaskanwal Deep Singh Sara von der Mayo Clinic, Rochester, Minnesota, gegenüber Medscape.
„Sobald wir Menschen herausgefiltert haben, bei denen eine Erkrankung unwahrscheinlich ist, könnten wir diese vielleicht als Screening-Tool verwenden, um Personen mit einer höheren Vortestwahrscheinlichkeit zu identifizieren, und damit beginnen, sie mit herkömmlichen Methoden zu vergleichen. Oder man könnte es nutzen, um Menschen longitudinal nachzuverfolgen“, schlug Sara vor. „Aber ganz gleich, wie wir es einsetzen, es wird eine Ergänzung zu den bestehenden Strategien sein.“
Sara wird Ergebnisse der Studie am 2. April während der American College of Cardiology (ACC) 2022 Scientific Session, die virtuell und vor Ort in Washington, DC, stattfindet, vorstellen und ist Hauptautor der Studie.
Erstmals sind prospektive Vorhersagen möglich
Frühere Untersuchungen zum Thema zeigten signifikante Assoziationen zwischen den gleichen oder ähnlichen Stimmbiomarkern oder einzelnen Merkmalen der Stimme mit verschiedenen Erkranungen,etwa einer KHK, pulmonalen Hypertonie sowie – bei Patienten mit Herzinsuffizienz – der Sterblichkeit und dem Risiko eines Krankenhausaufenthalts.
Die aktuelle Studie sei jedoch die erste, die Techniken der Stimmanalyse zur prospektiven Vorhersage von KHK-Ereignissen einsetze, so Sara. Der getestete stimmliche Biomarker sei mit Hilfe proprietärer Methoden der künstlichen Intelligenz (Vocalis Health) aus Stimmsignalen von mehr als 10.000 Patienten mit chronischen Krankheiten abgeleitet worden, berichtet Sara. Die daraus resultierenden Algorithmen wurden zur Analyse von 80 akustischen Merkmalen wie Frequenz, Amplitude, Tonhöhe und Kadenz entwickelt.
Patienten in der aktuellen Studie, die aus verschiedenen Gründen zur Koronarangiographie überwiesen wurden, u.a. wegen Brustschmerzen, die auf eine Angina pectioris hindeuten, wegen eines positiven Stresstests, wegen eines Krankenhausaufenthalts aufgrund eines akuten Koronarsyndroms oder wegen einer präoperativen Untersuchung lieferten jeweils drei 30-sekündige Stimmaufnahmen, die auf die verschiedenen Stimmsignalmerkmale hin untersucht wurden.
In der multivariablen Analyse betrug die Hazard Ratio (HR) für den primären Endpunkt, definiert als akutes Koronarsyndrom oder als Einlieferung bzw. Vorstellung in der Notaufnahme mit Brustschmerzen über einen Median von 24 Monaten, 2,61 (95%-KI 1,42-4,80; p = 0,002) für das Drittel der Patienten mit den höchsten Scores im Vergleich zu den 2 Dritteln mit den niedrigsten Scores.
Die entsprechende HR für den wichtigsten sekundären Endpunkt, ein positiver Stresstest oder eine bei der Nachuntersuchung in der Angiographie nachgewiesene KHK, betrug 3,13 (95%-KI 1,13-8,68; p = 0,03).
Die Stimme – ein rätselhafter Biomarker
KI-gestützte Verfahren zur Diagnostik von Krankheiten oder zur Risikostratifizierung bleiben in der Regel sehr rätselhaft. Man weiß nicht, was sie eigentlich „erkennen“ und wie die Informationen erzeugt werden.
Auch in der aktuellen Studie ist völlig unklar, was die Stimme eines Patienten mit kardiovaskulären Risiken oder Vorerkrankungen zu tun hat. „Alles, was wir im Moment haben, sind Hypothesen, die auf unserem Verständnis der Pathophysiologie beruhen“, so Sara.
„Eine davon ist, dass dieser Biomarker eher einen systemischen Prozess anzeigt und nicht die Koronarerkrankung selbst. Und es könnte sein, dass er sich auf Veränderungen bezieht, die beispielsweise im autonomen Nervensystem stattfinden.“ Das heiße, so schlug er vor, es könnte ein „dynamisches Zusammenspiel“ zwischen verschiedenen vagal vermittelten physiologischen Funktionen geben.
„Das macht Sinn“, sagte er, denn der Vagusnerv innerviere auch direkt den Kehlkopf und die Stimmbänder. Und KHK-bedingte Ereignisse wie Angina pectoris und Myokardinfarkte können autonome Komponenten haben; sie können beispielsweise Übelkeit, Diaphorese oder Blutdruckveränderungen hervorrufen.
Alternativ könne die Stimme und das Herz-Kreislauf-Risiko mit der durch die KHK ausgelösten systemischen Entzündung in Verbindung stehen, schlug Sara vor. „Vielleicht wirkt sich der mit der Atherosklerose verbundene Entzündungsprozess auch auf die Organe der Stimmbildung aus, und wir greifen diese parallele Pathologie auf.“
Aber, so warnte er, „wir brauchen mehr Beweise, bevor wir diese Art von Ideen konkreter formulieren können. Wir wollen unsere Ansprüche nicht überbewerten.“
Allerdings werden die von der KI abgeleiteten Algorithmen „nicht etwas sein, das jeder herunterladen kann“, um sie bei sich selbst zur Diagnose oder Risikobewertung zu Hause einzusetzen, relativiert Sara. Sie würden gezielt unter der Leitung von Ärzten verwendet, die über Grenzen solcher Technologien informiert seien – und sie als Ergänzung zu den bestehenden klinischen Methoden heranzögen.
Der Artikel wurde von Michael van den Heuvel aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: Die Stimme entlarvt Herz-Kreislauf-Risiken – mit einer künstlichen Intelligenz könnte das funktionieren - Medscape - 1. Apr 2022.
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