Kindesmisshandlungen noch „verdammt häufig“ – Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz fordert mehr Courage von Ärzten

Christian Beneker

Interessenkonflikte

30. März 2022

Erst seit 20 Jahren hat jedes Kind in Deutschland ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Das ist noch nicht lange. Bis dahin hatten es ganz normale Kinder, wie der „Zappel-Philipp“, der „Daumenlutscher“ oder der „Suppen-Kaspar“ schwer.

Noch 1994 ehrte die Post das Buch „Der Struwwelpeter“ mit einer eigenen Briefmarke, jenes Bilderbuch, in dem Kinder, die Streiche spielen und nicht brav sind, die furchtbarsten Folgen erleiden: Sie wurden kopfüber in schwarze Tinte getaucht, ihnen wurden beide die Daumen abgeschnitten, sie verhungerten oder verbrannten. Der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann veröffentlichte die Geschichten 1844.

Wie lang der Weg zur Gewaltlosigkeit im Kinderzimmer immer noch ist, zeigen die Zahlen, die Dr. Bernd Herrmann, Oberarzt am Klinikum Kassel und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM), beim „Basiskurs Kinderschutz in der Medizin“ präsentierte [1].

Seit dem 1. Januar 2001 besitzt zwar jedes Kind das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung ( §1631 Abs. 2 BGB). Aber noch 2012 akzeptierte der Hälfte aller Eltern (54%) die leichte Ohrfeige als Erziehungsmethode, 10% erzogen ihre Kinder mit kräftigen Ohrfeigen und 45% gar mit harten Körperstrafen.

Obwohl inzwischen die Gewalt gegen Kinder in Deutschland tatsächlich zurückgeht, bedeutet dies nicht, dass es wenig Gewalt gegen Kinder gäbe, resümierte Herrmann und zitierte den US-amerikanischen Soziologen Lloyd deMause: „Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen.“

2019 in Deutschland: Über 45.000 Kindeswohlgefährdungen

In der Tat: Die Jugendämter in Deutschland zählten 2019 rund 136.900 Anzeigen der Kindeswohlgefährdung. Bei rund 45.800 lag tatsächlich eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung vor. „Und der Gesundheitsbereich zählt mit 6,6% der Meldungen nicht gerade zu den Hauptmeldern – das sollte uns zu denken geben“, so Herrmann. „Kindesmisshandlungen sind in Deutschland verdammt häufig!“

 
Kindesmisshandlungen sind in Deutschland verdammt häufig! Dr. Bernd Herrmann
 

Allein der sexuelle Missbrauch von Kindern sei häufiger als Krebs bei Kindern, juveniler Diabetes und angeborene Herzfehler zusammen. Da gelte es hinzuschauen, mahnte der Kinderarzt.

Als Kindesmisshandlung gelten physische und psychische Gewaltakte, sexueller Missbrauch, seelische und körperliche Vernachlässigung und weitere Gewaltformen, wie das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom – und zwar durch aktives Tun oder Unterlassen, bewusst oder unbewusst.

Meistens leiden die betroffenen Kinder unter gleich mehreren Formen der Gewalt, etwa körperlicher Misshandlung, emotionaler Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch.

Die psychischen und körperlichen Folgen solcher Gewalt sind enorm. In ihrem World Report on Violence and Health aus dem Jahr 2002 stellt die Weltgesundheitsorganisation WHO fest: „Krankheiten, die auf Kindesmisshandlungen zurückgeführt werden können, stellen einen signifikanten Anteil der weltweiten Gesundheitsbelastung dar.“

Die Folgen von Gewalt und Vernachlässigung, Suchtmittelmissbrauch oder Scheidung der Eltern verkürzen sogar das Leben. Mit mehr als 5 solcher Belastungsfaktoren aufgewachsene Menschen hatten eine um 20 Jahre verkürzte Lebenserwartung, so die US-amerikanische ACE-Studie (Adverse Childhood Experiences).

Die ständige Angst vor Gewalt treibe die Kinder in eine andauernde Kampf-oder-Flucht-Reaktion, was zum Beispiel Konzentration und soziales Verhalten beeinträchtige. Dabei heilen die körperlichen Schmerzen ab, die seelischen Leiden können ein Leben lang dauern, sagte Herrmann.

„Wir stellen die Diagnose zu selten!

Unter den Folgen leiden nicht nur die Kinder, sondern auch die Kassen. Herrmann schätzt die jährlichen Kosten durch die Folgen von Kindesmisshandlung auf mindestens 11 Milliarden Euro.

 
Wir tun uns immer noch schwer, zu glauben, dass Kindesmisshandlungen auch in den besten Familien vorkommen können. Dr. Bernd Herrmann
 

Um auch in der Medizin den Kinderschutz besser umzusetzen, forderte Herrmann vom Kinderschutz in der Medizin mehr Courage. „Wir stellen die Diagnose zu selten“, erklärte er.

Vor allem müssten dazu Polizei, Jugendamt, Hausärzte oder Kinderärzte und Psychotherapeuten besser kooperieren, um dem Phänomen des Kindesmissbrauchs effektiv entgegenzutreten, sagte Frauke Schwier von der DGKiM in ihrem Vortrag: „Wer braucht was von wem? Was sagt die Familie dazu? Oder der Hausarzt oder die Jugendhilfe?“

Das „Netzwerken“ in der Versorgung betroffener Kinder müsse auch innermedizinisch besser werden, forderte Herrmann. Die Kinder- und Jugendkliniken machten es vor. Hier kooperieren Kindergynäkologie, Labor und Pflege mit Hautklinik oder Rechtsmedizin. Fälle von Vernachlässigung allerdings fielen eher in den Praxen der Niedergelassenen auf.

„Wir tun uns immer noch schwer, zu glauben, dass Kindesmisshandlungen auch in den besten Familien vorkommen können“, resümierte Herrmann, „auch wenn Papa im Gemeindevorstand ist und Mama den Chor leitet.“
 

Kommentar

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