Ältere Menschen haben weniger Appetit als jüngere, und eine Anorexie ist auch bei gesunden Senioren häufig. Darauf hat Prof. Dr. Christina Normann, Leiterin der Abteilung Ernährung und Gerontologie am Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke in einem Plenarvortrag auf dem 59. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ernährung hingewiesen. Der Kongress stand unter dem Motto „Der Kopf isst mit – Zusammenspiel von Ernährung und Gehirn“ und fand vom 16. bis 18. März 2022 online statt.
Die Datenlage: Ältere Menschen kompensieren Defizite schwerer
Bereits 1994 konnten Wissenschaftler zeigen, dass nach einer 3-wöchigen Periode der Unterernährung jüngere Menschen in den 10 Tagen danach besser kompensierten als Ältere. Die 1. Gruppe erreichte in diesem Zeitraum eine Energiezufuhr von 110 bis 130% dessen, was zum Gewichtserhalt notwendig wäre, die Älteren dagegen nur etwa 90 bis maximal 100% (P = 0,02). Dieselbe Arbeitsgruppe zeigte, dass die Phase der Hypophagie nach 6 Wochen kalorischer Restriktion bei den Älteren 6 Monate anhielt.
Die per Fragebogen (SNAQ) bei 11.344 Senioren bestimmte Häufigkeit des Risikos einer Anorexie in der Klinik lag in einer aktuellen US-amerikanischen Untersuchung für 65-74-Jährige bei 25%, ab dem 85. sten Lebensjahr sogar bei 35,7 %. Diese Werte sind aber kaum höher als bei gesunden Älteren. So fand die Wealth, Wellbeeing and Aging-Studie mit 1.246 Personen über 60 Jahren eine Prävalenz von 30,4%, wobei Anorexie allerdings nur durch eine Frage nach dem Essverhalten eingeschätzt wurde.
Noch unpublizierte Daten von Normanns Arbeitsgruppe ergaben bei 210 Klinikpatienten eine Häufigkeit der Anorexie gemäß dem CNAQ-Fragebogen von 37,1 Prozent. Zwischen Patienten mit und ohne Anorexie gab es dabei keine signifikanten Unterschiede beim Alter, dem BMI oder dem Gewichtsverlust in den vorherigen 3 Monaten, allerdings wurden Fatigue und Gebrechlichkeit bei den Anorexie-Patienten häufiger festgestellt (4,3 versus 3,3% bzw. 7,6 versus 7,4%; P = 0,005 bzw. 0,029).
Bei der Nachverfolgung von 329 Patienten hatten diejenigen mit einer Anorexie eine erhöhte Anfälligkeit für eine Wideraufnahme in der Klinik. Das Chancenverhältnis OR betrug 1,104 mit jeder Zunahme der Appetitlosigkeit auf der CNAQ-Skala um einen Punkt. Für die Mortalität betrug dieser Faktor 1,22 und bei einer Anorexie (entsprechend einem SNAQ < 14) 2,62. Schließlich waren bei Anorexie-Patienten im Krankenhaus nosokomiale Infektionen um das 3,53-fache häufiger als für nicht anorektische Patienten.
In Pflegeeinrichtungen waren einer italienischen Studie mit 1.904 Personen zufolge die Risikofaktoren Verhaltensprobleme, Demenz und Depression, aber auch Nierenversagen, der Gebrauch von Opioiden und insbesondere Verstopfungen mit den Anzeichen für eine Anorexie assoziiert. Die Mortalität bei Vorliegen einer Anorexie war ähnlich stark erhöht wie bei deutschen Klinikpatienten; das Chancenverhältnis HR betrug 2,26.
Normanns Arbeitsgruppe publizierte kürzlich, dass unter annähernd 20.000 Einwohnern von deutschen Pflegeheimen 13,7 % untergewichtig waren. Unter acht Parametern war Appetitlosigkeit derjenige, der mit 41,2 % bei diesen Individuen am häufigsten festgestellt wurde. In der Praxis behandelt die Gerontologin dies zunächst pragmatisch mit Supplementen zur Erhöhung der Nahrungszufuhr. „Aus wissenschaftlicher Sicht ist dies nicht der richtige Ansatz“, räumte Normann ein. Bei dem meist kurzen Aufenthalt in der Klinik seien eine Abklärung und eine Behandlung der Ursachen meist jedoch nicht möglich.
Fazit: Den Risikofaktor Alter stärker berücksichtigen
Das Alter ist ein Risikofaktor für eine unzureichende Kompensation nach einer Phase der Unterernährung. Im Zusammenhang mit akuten Krankheitsgeschehen kommt der Anorexie eine besondere Bedeutung zu. Eine quantitative Bewertung des Problems wird allerdings durch die Verwendung verschiedener Instrumente erschwert.
Der Beitrag ist im Original erschienen auf Univadis.de.
Credits:
Photographer: © Clearvista
Lead image: Dreamstime.com
Medscape Nachrichten © 2022 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Anorexie im Alter – nicht nur bei Vorerkrankungen eine Gefahr. Worauf Ärzte achten sollten - Medscape - 25. Mär 2022.
Kommentar