Können Ärzte den Boykott von Gesundheitslieferungen, einschließlich Medikamenten und lebensrettenden Geräten, an russische Bürger unterstützen? Sollten sie das tun? Zuletzt wurde dieses Thema in Chats und sozialen Medien, vor allem in Europa, angesprochen. Prof. Dr. Daniela Ovadia, Professorin für Wissenschaftsethik an der Universität Padua, hat sich damit befasst. Ihre Einschätzung:
Ukrainische Flüchtlinge im Fokus
Der Krieg ist Teil unseres täglichen Lebens geworden. Wir alle helfen ukrainischen Flüchtlingen, bieten ihnen eine medizinische Grundversorgung an, öffnen unsere Häuser, um sie aufzunehmen. Wir sammeln Waren und Medikamente, um sie an die ukrainischen Grenzen zu schicken, wo derzeit Tausende von Flüchtlingen auf Hilfe warten. Wir alle wissen, dass es im aktuellen Konflikt Opfer und Täter gibt.

Prof. Dr. Daniela Ovadia
Aber wenn ich solche schwierigen Fragen beantworten muss, bin ich froh, dass ich Ethik und Bioethik studiert und gelehrt habe. Schaubilder, Leitlinien und ethische Erklärungen funktionieren gut als „moralisches Exoskelett“, das mir hilft, die höchsten Werte der Medizin im Auge zu behalten, auch wenn diese Werte sehr schwierige moralische Grenzen setzen und manchmal mit meinem Bauchgefühl kollidieren.
Humanitäre Hilfe dank der Genfer Konventionen
Zum Hintergrund: Die Genfer Konventionen, 4 Verträge, die 1949, am Ende des Zweiten Weltkriegs, unterzeichnet worden sind, und 3 Zusatzprotokolle, die 1977 paraphiert worden sind, legen internationale rechtliche Standards für die humanitäre Behandlung von Menschen in Kriegszeiten fest, einschließlich medizinischer Hilfe. Sie gewährleisten den Schutz von Verwundeten und Kranken sowie der Zivilbevölkerung in und um ein Kriegsgebiet.
Natürlich zielen sie in erster Linie darauf ab, diejenigen, die angegriffen werden, vor der Grausamkeit des Angreifers zu schützen, und es gibt zahlreiche Beweise dafür, dass Russlands Militär gegen die Regeln der Genfer Konventionen verstößt, indem Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen angegriffen werden.
Aber erlaubt dies der internationalen medizinischen Gemeinschaft, die Beziehungen zum russischen Gesundheitssystem abzubrechen und pharmazeutische Unternehmen oder andere Firmen aus dem Gesundheitsbereich daran zu hindern, ihre Waren in das Land des Aggressors zu liefern? Meiner Ansicht nach lautet die Antwort nein. Die Genfer Konventionen besagen, dass die Schutzbestimmungen für Zivilisten in jedem Land, das in einen Krieg verwickelt ist, und sogar für Soldaten in Not gelten, wenn sie verwundet sind oder das Schlachtfeld verlassen.
Auch die Zivilbevölkerung in Russland leidet
Selbst wenn wir uns nur auf die klassischen bioethischen Theorien von Wohltätigkeit und Nichtschädlichkeit des medizinischen Handelns stützen wollen, könnten wir in Schwierigkeiten geraten, wenn wir zum Zusammenbruch des russischen Gesundheitssystems beitragen mit dem Ziel, die russische Regierung unter Druck zu setzen, den Krieg zu beenden.
Russland ist ein sehr großes Land mit starken Unterschieden bei der Gesundheitsversorgung. Wie ein russischer Journalist in einem Artikel auf Univadis.it geschrieben hat, hat der Wirtschaftsboykott bereits zu einem Mangel an lebensrettenden Gütern wie Medikamenten für Chemotherapien und Geräten zur Diagnostik geführt. Wir können leicht vorhersagen, dass die Zahl der vermeidbaren Todesfälle schnell steigen wird.
Wir haben bereits während der Pandemie einen deutlichen Anstieg der Sterblichkeitsrate in den westlichen Industrieländern gesehen, als der Zugang zu Präventionsmaßnahmen und Behandlungen beeinträchtigt war. Es ist davon auszugehen, dass die Sanktionen eine ähnliche Wirkung haben werden, und wahrscheinlich erwarten unsere politischen Entscheidungsträger, dass sie die russischen Bürger zum Aufstand gegen den Kriegsverbrecher, der das Land regiert, bewegen werden. Nach der modernen Bioethik haben politische Entscheidungsträger jedoch eine andere Rolle und einen anderen ethischen Rahmen als Ärzte und sonstige Mitarbeiter im Gesundheitswesen.
Jeder Mensch hat das Recht, behandelt zu werden
Das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin (besser bekannt als Oviedo-Konvention), das 1997 vom Europarat unterzeichnet wurde, ist der erste rechtsverbindliche internationale Text, der die Würde, Rechte und Freiheiten des Menschen durch eine Reihe von Grundsätzen und Verboten gegen den Missbrauch des medizinischen Fortschritts schützen soll. Ausgangspunkt der Konvention ist, dass die Interessen des Menschen Vorrang vor den Interessen der Wissenschaft oder der Gesellschaft haben müssen.
Die Konvention stützt sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen und insbesondere auf die Artikel 22 bis 27, die die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte des Einzelnen, einschließlich der Gesundheitsversorgung, regeln. Sie beziehen sich insbesondere auf die Betreuung von Müttern und Kindern.
Die Oviedo-Konvention enthält eine Reihe von Grundsätzen und Verboten in Bezug auf die Bioethik, auf die medizinische Forschung, auf Einwilligungen, auf das Recht auf Privatleben und Information und viele Aspekte mehr. Vor allem aber legt sie den Grundsatz fest, dass jeder Mensch das Recht hat, behandelt zu werden, wenn er krank ist, und dass es die Pflicht jedes Arztes ist, jeden zu behandeln, der in Not ist, ohne zu fragen und ohne moralische Urteile zu fällen.
Dies ist ein wichtiger, zukunftsträchtiger Grundsatz der modernen Bioethik, der auch in anderen Dokumenten verankert ist, etwa in der Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes, die erstmals von der 18. Generalversammlung des Weltärztebundes im Juni 1964 verabschiedet und mehrfach geändert wurde, zuletzt 2013. Sowohl die Konvention von Oviedo als auch die Deklaration von Helsinki zielen hauptsächlich auf den Schutz des Menschen in der medizinischen Forschung ab.
Wirtschaftliche Sanktionen bedrohen die Gesundheit der Menschen
Das bedeutet aber auch: Die internationale Staatengemeinschaft und mit ihnen die Hersteller von Arzneimitteln müssen sich bewusst machen, dass sie, wenn sie wirklich jede Zusammenarbeit mit Russland beenden wollen, dennoch Pflichten haben. Die moderne Bioethik besagt nämlich, dass diejenigen, die eine klinische Studie beginnen, die Pflicht haben, sie zu Ende zu führen, und auch die Pflicht haben, den rekrutierten Patienten weiterhin eine angemessene Behandlung anzubieten, selbst im Falle eines Abbruchs der Studie, unabhängig von den Gründen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Sanktionen Folgen für die Gesundheit der Einwohner eines Landes haben. In den 1980er Jahren hat sich der wissenschaftliche Boykott Südafrikas auf die Gesundheit der südafrikanischen Bürger ausgewirkt, auch wenn Medikamente und medizinischer Bedarf nicht unter das Handelsverbot fielen.
Interne Befürworter der Sanktionen, etwa die National Medical and Dental Association, eine der wichtigsten medizinischen Anti-Apartheid-Organisationen, haben damals Möglichkeiten erörtert, die Wirtschaftssanktionen zu unterstützen und gleichzeitig die Schwächsten vor den Belastungen zu schützen, die sich aus dieser Politik ergaben.
Wenn Ärzte den „Feind“ behandeln
Was wir aus ethischer Sicht aus den Erfahrungen von Ärzten lernen können, die ihre „Feinde“ behandeln, war Gegenstand einer sehr interessanten Studie von Gil Rubinstein und Miriam Ethel Bentwich. Es handelt sich um eine quantitative Analyse der impliziten Voreingenommenheit israelischer Ärzte im Umgang mit verwundeten syrischen Soldaten und palästinensischen zivilen Terroristen.
Die Ergebnisse zeigen, dass israelische Ärzte gegenüber der palästinensischen Zivilbevölkerung voreingenommener sind, aber der interessanteste Kommentar ist meiner Meinung nach in der Zusammenfassung zu finden: „Dieser Mangel [an Empathie gegenüber bestimmten Arten von Feinden] untergräbt den Grundsatz der Wohltätigkeit und beeinflusst dadurch möglicherweise die Erfüllung der Verpflichtung, Patienten zu behandeln. Die Anerkennung und Bewältigung der potenziellen emotionalen und ethischen Defizite bei Begegnungen mit so genannten feindlichen Patienten ist für die globale medizinische Gemeinschaft von Bedeutung, da solche Begegnungen immer mehr zu einem integralen Bestandteil der aktuellen politischen Realitäten werden, mit denen sowohl die Industrie- als auch die Entwicklungsländer konfrontiert sind.“
Wann ein wissenschaftlicher Boykott dennoch legitim ist
Darf die medizinische Gemeinschaft folglich nicht an Sanktionen oder Boykottmaßnahmen teilnehmen? Meiner Meinung nach finden wir eine gute Antwort in einer Erklärung über den moralischen Status des wissenschaftlichen Boykotts, die 2003 von einer Gruppe von Wissenschaftlern in Nature veröffentlicht wurde.
Nach Ansicht der Autoren, zu denen auch Colin Blakemore und Richard Dawkins gehören, muss ein wissenschaftlicher Boykott genaue Bedingungen erfüllen, darunter eine ausdrückliche und weithin geteilte Einschätzung, dass es sich lohnt, den Grundsatz der Universalität der Wissenschaft für einen bestimmten, überwältigenden Vorteil aufzugeben.
Wir müssen sicher sein, dass der Boykott tatsächlich dazu beiträgt, das „inakzeptable Verhalten eines Regimes“ zu ändern, weil er „nicht nur eine politische Geste“ ist. Nicht zuletzt sollte der Boykott den Autoren zufolge „Teil eines international vereinbarten Programms von Maßnahmen sein, die das kollektive Entsetzen über ein Regime zum Ausdruck bringen und notwendig sind, um eine vorhersehbare Katastrophe abzuwenden“, um eine Entscheidung zu vermeiden, die von Vergeltung und nicht von Wohltätigkeit bestimmt ist.
Im Falle des russischen Handelsverbots müssen Maßnahmen in erster Linie zur Unterstützung der Ukraine, aber auch der russischen Zivilbevölkerung ergriffen werden, vielleicht durch internationale Programme, um zumindest die lebensrettende Versorgung sicherzustellen.
„Zu Ehren des Wissens, das ich von meinen Lehrern erhalten habe, schwöre ich, mich um jeden zu kümmern, der leidet, ob Fürst oder Sklave.“
Hippokratischer Eid (angelehnt an eine US-amerikanische Formulierung)
Der Beitrag wurde von Michael van den Heuvel aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Pflicht, auch den „Feind“ zu behandeln: Ärzte und Pharmafirmen sollten bei Boykotten Russlands Zivilbevölkerung nicht vergessen - Medscape - 24. Mär 2022.
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