MEINUNG

„Das ist eine Epidemie!“ Sexueller Missbrauch von Kindern im Internet – Psychologin erklärt die Ursachen und nötige Maßnahmen

Christian Beneker

Interessenkonflikte

23. März 2022

Der Missbrauch über das Internet hat dieselbe Wirkung wie der physische sexuelle Missbrauch. Kinder können nachhaltig traumatisiert werden. Medscape sprach mit der Psychologin Julia von Weiler über Gefahren und Therapiemöglichkeiten bei sexuellem Missbrauch über das Internet. Weiler arbeitet seit 1991 zum Thema „sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“. Sie leitet die Berliner Beratungsstelle „Innocent in Danger.“

Medscape: Frau Weiler, was gilt als sexualisierte Gewalt im Internet?

von Weiler: Das Spektrum reicht von sexualisierter Ansprache von Kindern über das „Penis-Bild“ bis hin zum sogenannten Livestream-Missbrauch, bei denen die Täter das Kind am Bildschirm so manipulieren, dass es zum Beispiel sexuelle Handlungen an sich vornimmt. Die Strafbarkeit beginnt schon da, wo Täter die Absicht haben, ein Kind zu sexuellen Handlungen zu bewegen: Da wird der Körper kommentiert, da wird nach Fotos gefragt, nach Nacktbildern.

Medscape: Wie finden die Täter und Täterinnen ihre Opfer?

von Weiler: Da spielen Kinder zum Beispiel „Minecraft“, ein Internetspiel, bei dem viele an ihren Bildschirmen mitmachen: Leute kennenlernen, sich austauschen, einander unterstützen – und so weiter. Plötzlich wird das Handeln eines Kindes kommentiert: „Du machst das toll. Wollen wir uns nicht bei WhatsApp weiter unterhalten?“ Spätestens dann, wenn Täter und Opfer aus dem öffentlichen Raum im privaten Chat verschwunden sind, wird der Täter oder die Täterin explizierter: „Kannst Du mir mal ein Foto von dir schicken? Bist du aber hübsch.“

Julia von Weiler

Dann hat er oder sie das Kind in der Hand und kann es erpressen: „Wenn du etwas verrätst oder nicht tust, was ich will, schicke ich das Bild an deine Eltern und Freunde.“ Kinder sind dann im Zweifel zu vielem bereit. Und die erwachsenen Täter und Täterinnen sind den Kindern immer strategisch überlegen.

Die Täter und Täterinnen nutzen alle Möglichkeiten – wer analog Kontakt sucht, tut es auch im Internet und umgekehrt. Die MiKADO-Studie der Universität Regensburg hat 2015 ermittelt: Wenn ein Online-Kontakt zu einem analogen Kontakt führt, dann wird das Kind zu 100% Opfer sexueller Gewalt. Man darf also digitalisierte Gewalt nicht isoliert betrachten.

 
Wenn ein Online-Kontakt zu einem analogen Kontakt führt, dann wird das Kind zu 100% Opfer sexueller Gewalt. Julia von Weiler
 

Medscape: Wie häufig geschieht sexualisierte Gewalt per Internet?

von Weiler: Aus den Ergebnissen der MiKADO-Studie haben wir hochgerechnet, dass in Deutschland 728.000 Erwachsene sexualisierte Online-Kontakte zu Kindern unterhalten. In der polizeilichen Kriminalstatistik werden jedes Jahr zwischen 14.000 und 16.000 betroffene Kinder ausgewiesen. Das ist eine Epidemie! Und zwar schon seit eh und je. Das Internet ist ein gigantischer Brandbeschleuniger. Wenn wir allein von den Missbrauchsdarstellungen im Internet ausgehen, haben wir den physischen Beleg dafür, dass Missbrauch millionenfach auf der Welt stattfindet.

Typische Täter und typische Opfer?

Medscape: Was weiß man über die Täter und Täterinnen?

von Weiler: Da gibt es die pädophilen Täter, die nur durch kindliche Körper erregbar sind. Diese Gruppe macht etwas weniger als die Hälfte der Täter aus. Die andere Hälfte sind „Ersatzhandlungstäter“: Da geht es um Macht über das Kind, um Dominanz, um das Fehlen jeglicher Empathie. Manche Täter werden sofort fordernd und brutal, andere nähern sich dem Kind online eher anbahnend, was schon Teil des Missbrauchs ist.

 
Das ist eine Epidemie! Und zwar schon seit eh und je. Das Internet ist ein gigantischer Brandbeschleuniger. Julia von Weiler
 

Man weiß auch hier insgesamt wenig über die Täter, nur so viel: Die Rückfallquote nach einer Therapie oder nach einem Gefängnisaufenthalt ist hoch. Die Auseinandersetzung mit Täterinnen ist immer noch ein großes Tabu. Leider. Das müssen wir ändern.

Medscape: Gibt es das typische Opfer?

von Weiler: Ein Jugendlicher hat es mal auf den Punkt gebracht: kleine labile Mädchen, je jünger, desto eher. Grundsätzlich sind jüngere Kinder erwachsenen Strategen unterlegen. Wenn Kinder und/oder Jugendliche eine schwere Zeit in ihrem Leben haben, sind sie natürlich auch besonders anfällig – wenn zum Beispiel ein Familienmitglied gestorben ist, die Eltern sich trennen, wenn der Hund weggelaufen ist …

Medscape: Was bewegt Kinder dazu, sich schließlich ihren Eltern anzuvertrauen?

von Weiler: Kurz gesagt: wenn der Leidensdruck und der Stress zu groß werden. Wenn zum Beispiel anzügliche Bilder die Runde machen. Übrigens sind die Eltern nicht immer die erste Adresse für die Kinder. Sie haben Angst, ihre Eltern zu belasten oder zu enttäuschen. Sie fürchten schlimme Konsequenzen und fühlen sich schuldig. Wir überlegen in den Gesprächen mit den Kindern oft, welche Vertrauenspersonen und Freunde, an die sie sich wenden können, es in ihrem Leben noch gibt.

Medscape: Welche Folgen hat der sexuelle Missbraucht via Internet für die betroffenen Kinder?

von Weiler: Die Erfahrung, missbraucht worden zu sein, verändert das Leben eines Menschen unwiederbringlich. Nichts ist mehr so, wie es hätte sein können. Das Leben nimmt einen anderen Verlauf. Das Vertrauen in sich selbst und andere und in die körperliche Integrität wird zutiefst erschüttert.

Sexualisierte Gewalt wird durch das Internet haargenau so traumatisierend erlebt wie direkter physischer Missbrauch. Die betroffenen Kinder leiden unter anderem an posttraumatischen Belastungsstörungen, hochgradig komplexen Traumata, dissoziativen Persönlichkeitsstörungen, „hyper awareness“, Angstzuständen, Zwängen etc.. Eine Frau sagte mir einmal, sie fühle sich seit dem Missbrauch in keiner Situation mehr sicher.

Die Folgen fürs Leben

Medscape: Gibt es nach einem Missbrauch nie mehr ein zufriedenes Leben?

von Weiler: Doch, das gibt es trotz alledem.

Medscape : Wie ist das möglich?

von Weiler: Kinder sind auch resilient. Betroffene müssen nicht ein Leben lang unglücklich und niedergeschlagen sein. Sondern der Missbrauch kann als Teil der Biografie anerkannt werden – vorausgesetzt, das Kind findet adäquate Hilfe. Die Verarbeitung hängt auch mit den inneren Ressourcen zusammen, mit dem Zugang zu Hilfen, einer unterstützenden Umwelt, auch von Glück und Persönlichkeit der Betroffenen. Und: Ihre Therapeuten und Ärzte dürfen selbst keine Angst haben vor dem Thema.

Es gibt natürlich gelungene Therapien. Sie machen das Geschehene zwar nicht ungeschehen. Aber sie lehren, damit umzugehen, dass es so war, wie es war. Dann können die Betroffenen auch ein erfülltes und glückliches Leben führen.

Allerdings hat die MiKADO-Studie herausgefunden: Nur 1 Drittel der Betroffenen teilt sich jemandem über die Tat mit. Und 80% derer, die es tun, machen damit eine gute Erfahrung. Leider fehlen ausreichend Therapiemöglichkeiten.

Medscape: Warum?

von Weiler: In der Ausbildung kommt das Thema für die Therapeuten nach wie vor nicht verpflichtend vor. Zudem sind Kinder- und Jugendtherapeutinnen rar gesät. Und Beratungsstellen wie „Violetta“ in Hannover, „Wildwasser“ oder „Innocence in Danger“ in Berlin oder „Schattenriss“ in Bremen kämpfen regelmäßig um das finanzielle Überleben. Außerdem will die Gesellschaft nicht hinsehen. Sie interessiert sich mehr für die Täter als für die Opfer. Opfer gelten als „anstrengend“.

Medscape: Was erwarten Sie von der Politik, um die Versorgungslage zu verbessern?

von Weiler: Wir erwarten eine flächendeckende, qualifizierte Versorgung betroffener Kinder, Jugendlicher und Erwachsener. Das ist eine Aufgabe für Kommunen, Länder und den Bund. Alle sind gefordert, und wir erwarten, dass das Hin-und-Her-Geschiebe von Verantwortung aufhört.

Wichtige Rolle der Ärzte

Medscape: Woran können die Hausärztin und der Hausarzt merken, dass ein Kind womöglich unter sexuellem Missbrauch über das Internet leidet?

von Weiler: Also, die Fragen „Was machst du so im Internet?“, „Was ist bei dir online los?“ sollte zu jeder Anamnese gehören. Das kann Türen öffnen. Wenn Ärzte einen Verdacht hegen, sollten sie ihn unbedingt ernst nehmen. Als Unterstützung wurde die Kinderschutzhotline ins Leben gerufen, wenn Ärztinnen und Ärzte Vermutungen einen Missbrauch vermuten (Telefon 0800 / 19 210 00 und online).

Medscape: Welche Möglichkeiten der Prävention gibt es?

von Weiler: Ich muss als Elternteil genau wissen, wann ich meinem Kind ein internetfähiges Handy schenke. Ist mein Kind schon fit genug? Dann muss ich trotzdem mein Kind begleiten. Das ist eine große Aufgabe, und sie wird leider oft nicht angenommen. Eltern sollten aber wissen, in was für Lebenswelten ihr Kind mit einem Handy eintaucht, welche Apps und Spiele und welche Zugriffsrechte es bekommen soll. Wir schlagen zum Beispiel ein Digitalabkommen zwischen Eltern und Kindern vor. Eine gute Regel ist: Kein digitales Endgerät im Schlafzimmer!

 
Sexualisierte Gewalt wird durch das Internet haargenau so traumatisierend erlebt wie direkter physischer Missbrauch. Julia von Weiler
 

Natürlich können wir die Kinder nicht zu 100% schützen. Aber wir müssen wissen: Früher kamen die Kinder abends vom Spielen nachhause, und wir wussten, dass sie jetzt sicher zuhause waren. Heute wissen wir nicht mehr so genau, wer auch zu Hause den direkten und ungestörten digitalen Zugang zu unseren Kindern hat. Das muss uns immer bewusst sein.
 

Kommentar

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