Die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) erwartet unter den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine auch Tuberkulose-Patienten. „Deshalb muss jetzt sichergestellt werden, dass diese Menschen lückenlos medizinisch weiterversorgt werden, damit deren Behandlung Erfolg hat“, sagt Prof. Dr. Torsten Bauer laut einer Pressemitteilung der DGP und des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose (DZK). Bauer ist Präsident der DGP und des DZK sowie Chefarzt der Lungenklinik Heckeshorn in Berlin.
Die aktuelle Herausforderung ist, unter den Kriegsflüchtlingen diejenigen zu finden, die an Tuberkulose erkrankt sind, um sie rasch weiterbehandeln zu können. Doch das sei nicht so einfach, aber machbar, wie Bauer bestätigt.
„Nicht alle Geflüchtete werden routinemäßig auf eine Tuberkulose gescreent. Es gab immer schon Bemühungen, z.B. Au Pairs aus der Ukraine oder Ländern mit einer ähnlich hohen Tuberkulose-Inzidenz zu untersuchen. Doch dafür gibt es bislang keine Rechtsgrundlage“, berichtet Bauer. „Das Infektionsschutzgesetz greift nur, wenn diese Menschen in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden. Dort findet ein Screening auf Tuberkulose statt.“
Für Erwachsene wird dazu in der Regel ein Röntgenbild gemacht. Bei Kindern sollte zur Abklärung idealerweise ein IGRA (Interferon-Gamma-Release-Assay) durchgeführt werden. Gegenüber dem 100 Jahre alten Tuberkulin-Hauttest gibt es beim IGRA keine Kreuzreaktionen mit BCG-Stämmen nach BCG-Impfung. „Das ist relevant, weil die BCG-Impfung bei Kindern in der Ukraine Teil der Vorsorge ist“, so Bauer.
Aktuell zum Welttuberkulosetag am 24. März hat die WHO zudem ihre Leitlinien zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen aktualisiert (siehe Kasten unten).
Flüchtlinge in Gastfamilien möglichst rasch zum Hausarzt
Damit fallen Kriegsflüchtlinge, die in Gastfamilien unterkommen, durch dieses Raster. „Wir wollen dafür sensibilisieren, dass Kriegsflüchtlingen in Gastfamilien möglichst zeitnah eine allgemeine medizinische Versorgung im Sinne einer Eingangsuntersuchung ermöglicht wird. Im Rahmen der medizinischen Sorgfaltspflicht ist es hierbei besonders wichtig, eben auch an Tuberkulose zu denken“, betont Bauer. Bei Beschwerden oder anamnestischen Hinweisen auf eine Tuberkulose sollte dann rasch eine entsprechende Diagnostik eingeleitet werden.
2 Aspekte unterscheiden die jetzige Situation von der Flüchtlingskrise 2015: Flüchtlinge aus der Ukraine müssen kein Asyl beantragen, sie können sich im Schengen-Raum 90 Tage ohne Visum aufhalten. Laut Bundesinnenministerium Nancy Faeser ist geplant, dass Flüchtlinge aus der Ukraine einen Schutzstatus von bis zu 3 Jahren erhalten sollen. Sie bekommen auch wahrscheinlich sehr schnell Zugang zur Krankenversicherung. „Das reicht ja erst einmal aus, um auf TB zu screenen“, sagt Bauer.
In Deutschland sind im Jahresschnitt 5 von 100.000 Einwohnern von Tuberkulose betroffen, in der Ukraine 73 Fälle auf 100.000 Einwohner.
Sehr hoher Anteil von multiresistenter TB
Der Anteil an multiresistenter TB (MDR-TB) bei Geflüchteten mit einer nachgewiesenen TB aus der Ukraine ist mit 29% sehr hoch, und der Behandlungserfolg einer MDR-TB liegt in der Ukraine bei nur etwa 51%. Zum Vergleich: In Deutschland lag der Anteil laut RKI für 2020 bei 2,7%.
Die Therapie ist aufwändig: „Eine multiresistente Tuberkulose muss mit mindestens 4, besser mit 5 bis 6 Antibiotika behandelt werden, die für mindestens 18 Monate eingenommen werden müssen“, erklärt Bauer.
Wichtig ist die Kontinuität der Therapie: „Bei einer Unterbrechung von nur 8 Wochen muss die Behandlung wieder von vorne beginnen“, erklärt Prof. Dr. Tom Schaberg, federführender Autor der deutschen Tuberkulose-Leitlinie.
Ko-Infektionen können eine Tuberkulose-Behandlung erheblich erschweren. Bei rund 22% der ukrainischen TB-Patienten liegt eine HIV-Infektion vor, oft kommt eine Hepatitis-C-Infektion dazu. Keine Rolle für die Frage der Ko-Infektionen bei TB spielt COVID-19.
In überfüllten Bahnhöfen und Zügen können keine Abstandsregeln eingehalten werden, bei einer derart hochansteckenden Infektion wird das zu einer Durchseuchung mit dem Coronavirus innerhalb von wenigen Tagen führen. Sind die Menschen dann in Deutschland angekommen, müssen sie noch gegen COVID-19 nachgeimpft werden. Ein erhöhtes Risiko, durch eine COVID-19-Infektion an Tuberkulose zu erkranken, ist aber nicht bekannt.
Die Heilungschancen einer MDR-TB sind deutlich schlechter als bei einer sensiblen TB, in der Ukraine liegt der Behandlungserfolg einer MDR-TB bei lediglich 51%. Doch auch damit hat man Erfahrung: Die Lungenklinik Heckeshorn ist eine der größten TB-Kliniken in Deutschland und hat in den vergangenen Jahren bereits TB-Patienten aus der Ukraine behandelt. Die Behandlungskosten sind allerdings sehr hoch: „Die Tagestherapiekosten liegen dann deutlich über 400 Euro, und das muss natürlich irgendwie refinanziert werden.“
Forderungen der DGP: Ärzte informieren und Finanzierung sichern
Die DGP fordert die Gesundheitspolitik auf, schnellstmöglich die Strukturen für die ambulante und stationäre Versorgung der Geflüchteten personell zu stärken und zugleich die Kostenübernahme unbürokratisch zu garantieren:
Der öffentliche Gesundheitsdienst muss kurzfristig mehr Personal und ein höheres Budget erhalten, um das Screening auf TB schnellstmöglich zu gewährleisten.
Die Kosten für die stationäre und ambulante Behandlung der MDR-TB müssen vollständig übernommen werden.
Die Kostenübernahme der längerfristigen Versorgung von Patienten mit Ko-Infektionen wie HIV oder einer zusätzlichen Abhängigkeit von intravenösen Drogen muss durch den Gesetzgeber gesichert sein.
Verbreitung von Informationen für Ärzte, die im Erstkontakt mit den Geflüchteten stehen, um Aufmerksamkeit für die TB als Differenzialdiagnose zu schaffen. Mittelfristig sollte die Fortbildung der Ärzteschaft in infektionsrelevanten Fragen gefördert werden, um künftig in Krisensituationen schnell handeln zu können.
DGP und DZK weisen in ihrer Pressemitteilung nachdrücklich darauf hin, dass die Kostenübernahme gesichert sein muss.
„Wir haben während der Flüchtlingskrise 2015 eine zusätzliche TB-Station in unserer Klinik eröffnet und die Therapie und Absonderung durchgeführt. Bis zu 3 Jahre später versuchte dann der medizinische Dienst der Krankenkassen, uns diese Fälle strittig zu stellen. Die Begründung im Streitfall lautete häufig, dass die Fälle ja auch ambulant behandelt werden können oder das Krankenhaus für die Absonderung nicht zuständig war“, berichtet Bauer.
Der Klinik drohten damit finanzielle Rückforderungen in Millionenhöhe. Erst im Herbst 2021 kam es nach intensiven Vorarbeiten zu einer einvernehmlichen Lösung mit dem Landesamt für Flüchtlinge. Bauer fürchtet, dass nun ähnliches passieren wird. „Es wird heißen: Behandelt erst mal und dann schauen wir.“ In diese Situation, so Bauer, wolle man nicht mehr geraten.
Hoffen auf Innovationsschub für die TB-Impfung durch COVID-19
„Wir erwarten, dass die sich Zahl multiresistenter TB durch die Kriegsflüchtlinge verdoppelt oder verdreifacht. Das hört sich jetzt dramatisch an, sollte aber letztlich kein Problem für das Gesundheitssystem in Deutschland sein“, sagt Bauer.
Er rechnet beispielhaft vor: „Sollten eine Million Geflüchtete in Deutschland aufgenommen werden, könnten mindestens 500 bis 1.000 neue Tuberkulose-Fälle dazu kommen. Es ist davon auszugehen, dass etwa 25 bis 30% davon multiresistente Tuberkulosen sind. Das ist ein durchaus handhabbares Problem, wenn die Rahmenbedingungen geschaffen sind“, sagt Bauer.
Tuberkulose-Bakterien sind weniger ansteckend als das Coronavirus. Auch wenn die Zahl der Tuberkulose-Fälle jetzt zunimmt: Zu einer Neubewertung der vom RKI seit 1998 nicht mehr empfohlenen BCG-Impfung wird es nicht kommen, sagt Bauer. „Aktuell wird die BCG-Impfung nur noch für Kinder in Hochrisiko-Inzidenz-Ländern durchgeführt. Dort werden die Säuglinge geimpft, weil sie dann nachweislich weniger schwer erkranken. Davon sind wir aber weit entfernt.“
Aktuell durchlaufen neue Impfstoffe gegen Tuberkulose Phase-3-Studien, berichtet Bauer. „Seit 100 Jahren suchen wir nach einem Impfstoff gegen Tuberkulose, und wir hoffen, dass die COVID-19-Krise vielleicht einen Innovationsschub auch für die TB-Impfung bringt.“
WHO aktualisiert ihre Therapie-Leitlinien für Kinder und Jugendliche
Zum Welttuberkulosetag am 24. März hat die WHO ihre Leitlinien für die Tuberkulose-Therapie für Kinder und Jugendliche aktualisiert und ruft dazu auf, dringend in den Kampf gegen Tuberkulose (TB) zu investieren. Zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt ist die Zahl der TB-Todesfälle im Jahr 2020 gestiegen. Anhaltende Konflikte in Osteuropa, Afrika und dem Nahen Osten haben die Situation für gefährdete Bevölkerungsgruppen weiter verschlimmert.
2018 und 2020 haben 20 Millionen Menschen eine TB-Therapie erhalten. Das sind nur 50% des 5-Jahres-Ziels von 40 Millionen Menschen, die im Zeitraum 2018-2022 eine TB-Behandlung erhalten sollen. Bei Kindern und Jugendlichen ist die Situation noch schlimmer: Im Jahr 2020 wurden schätzungsweise 63% der Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren mit Tuberkulose nicht erreicht oder hatten keinen Zugang zu Diagnose und Therapie; bei Kindern unter 5 Jahren war der Anteil mit 72% noch höher.
„Tuberkulosekranke Kinder und Jugendliche hinken beim Zugang zur Tuberkuloseprävention und -behandlung hinter den Erwachsenen her", sagte Dr. Tereza Kasaeva, Direktorin des weltweiten Tuberkuloseprogramms der WHO auf einem Press Briefing. „Die heute veröffentlichten WHO-Leitlinien sind für Kinder und Jugendliche von entscheidender Bedeutung, weil sie ihnen helfen, früher diagnostiziert zu werden und Zugang zur Behandlung zu erhalten. Das führt zu besseren Ergebnissen und reduziert die Transmission.“ Nun gehe es darum, die Umsetzung der Leitlinien in allen Ländern rasch voranzutreiben, um das Leben junger Menschen zu retten und Leid zu verhindern, betonte Kasaeva.
In den aktualisierten Leitlinien wird die molekulare Schnelldiagnostik als erster Test für die TB-Diagnose bei Kindern und Jugendlichen empfohlen. Für Kinder und Jugendliche, die eine medikamenten-sensible, nicht schwere Form der TB aufweisen, wird die Behandlungsdauer von 6 auf 4 Monate verkürzt, für Kinder und Jugendliche mit TB-Meningitis von 12 auf 6 Monate. Zwei der neuesten Medikamente zur Therapie arzneimittelresistenter Tuberkulose (Bedaquilin und Delamanid) werden jetzt für Kinder aller Altersgruppen empfohlen. Damit können Kinder mit arzneimittelresistenter TB unabhängig von ihrem Alter eine rein orale Behandlung erhalten.
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Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Ukraine-Flüchtlinge in Gastfamilien: Pneumologen raten zu raschem TB-Screening beim Hausarzt – WHO aktualisiert Leitlinien - Medscape - 23. Mär 2022.
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