Nach Schätzungen des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) sind bislang mehr als 3 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Nach Angaben der Bundespolizei sind bislang (Stand 18. März) knapp 200.000 Menschen vor dem Krieg nach Deutschland geflüchtet.

Lisa vom Felde
Sie fliehen vor Bomben, Panzern und einer zerstörten Infrastruktur in ihrer Heimat. Die Geflüchteten müssen nicht nur untergebracht werden, sondern auch medizinisch versorgt, psychosozial betreut und in einigen Fällen auch psychotherapeutisch behandelt werden.
In der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) sind 47 Psychosoziale Zentren organisiert, die sich auf die Versorgung von Geflüchteten mit Traumafolgestörungen spezialisiert haben. Im Jahr 2019 wurden in 42 psychosozialen Zentren rund 25 000 Klientinnen und Klienten versorgt. Der Praxisleitfaden „Traumasensibler und empowernder Umgang mit Geflüchteten“ des BAfF fasst die wichtigsten Erfahrungen zusammen.
Wie verbreitet sind Traumafolgestörungen unter Geflüchteten? Wie sieht ein traumasensibler Umgang mit Geflüchteten aus? Ist Deutschland auf die psychosoziale Versorgung der Kriegsflüchtlinge ausreichend vorbereitet? Über diese und andere Fragen sprach Medscape mit Lisa vom Felde, Referentin für besondere Schutzbedarfe und psychosoziale Versorgung bei der BAfF.
Medscape: Wie kann man jetzt neu ankommende Flüchtlinge psychisch unterstützen?
vom Felde: Es ist wichtig zu wissen, dass man viele schwere psychische Zusammenbrüche verhindern kann. Die Forschung dazu zeigt, dass geflüchtete Menschen, wenn sie nicht mehr in der akuten bedrohlichen Situation, sondern objektiv in Sicherheit sind, also z.B. hier in Deutschland, ein Gefühl von Kontrolle entwickeln, wenn in dieser Phase Unterstützung erhalten.
Dazu zählt, dass sie ihr Leben selber gestalten können, dass die Kinder zur Schule gehen oder wenn Erwachsene die Möglichkeit haben eine sinnstiftende Tätigkeit auszuüben. Diese ganzen Unterstützungsstrukturen können das Risiko stark reduzieren, dass sich eine PTBS oder eine andere Traumafolgestörung entwickelt.
Medscape: Nicht jede geflüchtete Person ist traumatisiert oder leidet an einer Traumafolgestörung. Wie verbreitet sind Traumafolgestörungen unter Geflüchteten?
vom Felde: International gibt es Studien, die zeigen, dass ca. 30% der Geflüchteten an einer PTBS leiden und 30% eine depressive Erkrankung entwickeln, wobei das natürlich auch gleichzeitig auftreten kann. Das sind internationale Zahlen, in Deutschland dürfte das ähnlich sein, allerdings sind die Zahlen für Deutschland nicht repräsentativ.
Medscape: Jeden Tag kommen derzeit etwa 12.000 bis 15.000 weitere Flüchtlinge aus der Ukraine hinzu, Ist Deutschland auf die psychosoziale Versorgung dieser Menschen vorbereitet?
vom Felde: Deutschland ist auf die Fluchtbewegung vor dem Krieg in der Ukraine nicht ausreichend vorbereitet.
Das Problem ist, dass es für die hier ankommenden Menschen aus verschiedenen Gründen – auch aufgrund der rechtlichen Bedingungen – keinen einfachen Zugang zum Regelsystem gibt. Das gilt auch für die Menschen aus der Ukraine. Sie bekommen zwar eine „Aufenthaltserlaubnis zum vorübergehenden Schutz“ nach §24 Aufenthaltsgesetz. Dieser beinhaltet aber auch den Bezug von Leistungen über das Asylbewerberleistungsgesetz.
Die Folge ist, dass die psychosozialen Zentren häufig die einzigen Anlaufstellen sind. Dort werden jährlich 25.000 Menschen versorgt. Doch die Kapazitäten in den psychosozialen Zentren decken schon jetzt nur einen kleinen Teil des eigentlichen Bedarfs ab.
Hinzu kommt, dass der Bund zurzeit nur etwa 9% der Finanzierung der Psychosozialen Zentren stemmt. Der Rest wird durch andere Mittel – häufig europäische Mittel – oder andere Projektgelder finanziert. Deutschland wird hier den Vorgaben, die es aufgrund internationaler Verpflichtungen eigentlich gibt und von denen ich vorhin gesprochen habe, nicht gerecht.
Medscape: Gibt es genügend ukrainisch-sprachige Therapeuten für die Betreuung?
vom Felde: Es gibt nicht genügend ukrainisch und russischsprachige Therapeutinnen und Therapeuten oder Sozialarbeitende, um damit die Versorgung abzudecken. Das gilt aber für alle anderen Sprachgruppen auch.
In der Regel arbeiten die Mitarbeitenden der PSZ deshalb mit Sprachmittlerinnen und Sprachmittlern. Sie haben damit jahrzehntelang sehr gute Erfahrungen gemacht. Sprachmittlerinnen unterstützen nicht nur bei der Sprache, sondern sind auch kulturmittelnd tätig und es gibt manchen Geflüchteten Sicherheit, dass noch eine dritte unterstützende Person mit im Raum ist, mit der sie sich direkt verständigen können.
Das Problem ist auch hier, dass es keine Finanzierung gibt und diese z.B. nicht im Sozialgesetzbuch verankert ist. Deshalb wird der größte Teil über Projektgelder oder Spenden finanziert. In einigen Bundesländern gibt es Sprachmittlungs-Pools, die über Landesmittel finanziert werden.
Wir bräuchten einen gesetzlichen Anspruch auf Sprachmittlung, damit Menschen, die kein Deutsch sprechen, angemessen versorgt werden können. Denn eigentlich brauchen viele Menschen – auch für ärztliche Termine – eine Person, die für sie übersetzt.
Die meisten unserer Mitgliedszentren sind jetzt dabei, Kapazitäten für ukrainische Sprachmittlung auszubauen. Es gibt in einigen psychosozialen Zentren Sprachmittlerinnen und Sprachmittler, die ukrainisch oder russisch sprechen. Wobei eine Therapie auf Russisch nicht für alle möglich sein wird. Manche werden auch sagen: „Ich möchte nicht die Sprache des Aggressors in der Therapie sprechen, auch wenn ich sie beherrsche.“
Medscape: In vielen Fällen brechen die Traumafolgestörungen bei Geflüchteten erst lange nach dem traumatischen Erlebnis auf, da andere Bedürfnisse, wie etwa körperliche Erkrankung, Sicherheitsbedürfnis etc. Vorrang haben. Was bedeutet das für die psychosoziale Versorgung?
vom Felde: Traumafolgestörungen können schon früh auftreten. Eine PTBS z.B. kann bereits wenige Wochen nach dem Trauma auftreten. Meistens aber sind die Menschen, die hier ankommen mit anderen Dingen beschäftigt. Es geht erst mal darum: wo wohne ich, wie geht es mit meinem Aufenthalt weiter, kann ich überhaupt in Deutschland bleiben oder werde ich abgeschoben, kann mein Kind in die Schule gehen und ähnliches. Die Menschen bleiben auch aufgrund der prekären Unterbringung und unsicheren Aufenthaltsstatus lange in einem Stressmodus.
Für die psychosoziale Versorgung bedeutet das: Die Menschen brauchen meistens nicht sofort eine Therapie, sondern – deshalb auch der psychosoziale Ansatz – sie haben erst ganz viele andere wichtige Bedürfnisse zu stillen.
Bei manchen tritt eine Traumafolgestörung erst dann auf, wenn sie zur Ruhe kommen. Und es gibt Menschen, die leben jahrelang hier und erleiden irgendwann einen Zusammenbruch. Der Auslöser ist nicht immer klar zu benennen. Vielleicht weil sie es nicht mehr aushalten jahrelang in einer Unsicherheit zu leben. Oder sie vermissen ihre Familie und machen sich Sorgen, weil diese noch im Herkunftsland lebt.
Medscape: Wer hat Anspruch auf eine Traumabehandlung?
vom Felde: Wenn Sie von einer Psychotherapie sprechen, muss man wissen, dass ein Mensch, der in Deutschland Asyl beantragt, in den ersten 18 Monaten des Aufenthaltes zunächst nicht krankenversichert ist. Es gibt stattdessen eine eingeschränkte Gesundheitsversorgung, die im Asylbewerberleistungsgesetz festgelegt ist. In manchen Bundesländern bekommen Asylsuchende trotzdem eine elektronische Gesundheitskarte, in anderen Bundesländern müssen sie immer einen Krankenschein beim Sozialamt, beantragen. In diesem Zeitraum dürfen nur akute Erkrankungen und Schmerzzustände behandelt werden, und wie das ausgelegt wird, ist immer auch ein bisschen abhängig vom zuständigen Sachbearbeiter.
Medscape: Gesetzt den Fall, ein Geflüchteter leidet an Panikattacken. Bekommt dieser Mensch dann eine Behandlung?
vom Felde: Das ist leider nicht immer so. Es hängt häufig davon ab, an wen die Person gerät. Die ersten Anlaufstellen sind in der Regel medizinische Versorgungsangebote in den Unterkünften. Wie die Ärztinnen und Ärzte sich bei solchen Anfragen verhalten, ist unterschiedlich.
Eine Rolle spielt auch, ob die betroffene Person Zugang zu einer Beratungsstelle hat, die sie vielleicht dabei unterstützt, eine Therapie zu beantragen oder ob die Person in einem psychosozialen Zentrum angebunden ist. Die psychosozialen Zentren rechnen den größten Teil der Behandlungen nicht mit den Krankenkassen ab. Die Behandlung in den psychosozialen Zentren ist kostenfrei und wird über andere Töpfe finanziert. Da kann jeder Mensch hingehen – unabängig vom Aufenthaltstitel und auch in den ersten 18 Monaten.
Medscape: Wie wird ein psychosozialer Behandlungsbedarf ermittelt?
vom Felde: Psychosoziale Versorgung orientiert sich an den Bedürfnissen der Klientinnen und Klienten, und ist in ein ganzheitliches Konzept eingebettet, das sozialarbeiterische und pädagogische Angebote, Beratung, psychologische und psychotherapeutische Angebote und ggf. medizinische Hilfe umfasst.
Nach europäischer Gesetzgebung haben Schutzsuchende mit besonderen Bedarfen – darunter fallen unter anderem auch Schutzsuchende mit psychischen Erkrankungen oder Überlebende schwerer Gewalt – das Recht, notwendige medizinische und auch psychotherapeutische Unterstützung zu bekommen. Sie haben das Recht, dass ihre besonderen Bedarfe festgestellt werden und darauf dann auch Konsequenzen folgen.
Es wäre z.B. eine Möglichkeit, dazu spezielle Sprechstunden einzurichten, offene Angebote mit festen Ansprechpersonen anzubieten, die einen Bedarf feststellen, und dann die entsprechenden Konsequenzen einzuleiten. Es geht ja nicht immer um eine Therapie, manchmal kann ein besonderer Bedarf auch bedeuten, dass die betroffene Person eine besondere Art der Unterbringung braucht. Oder eine spezielle Beratung zum Asylverfahren, weil sie sich Sorgen über ihren Aufenthaltstitel macht. Wenn sie ihre rechtliche Situation in einer Beratung besser verstanden hat, kann das schon beruhigen und die Betroffene kann schon wieder besser schlafen.
Die Bedarfe können sehr breit gefächert sein, nicht jeder Mensch braucht eine Therapie – deshalb spricht man auch vom psychosozialem Behandlungsansatz.
Medscape: In ihrem – derzeit vergriffenen – aber online verfügbaren Praxisleitfaden „Traumasensibler und empowernder Umgang mit Geflüchteten“ informiert die BAfF über Trauma und Flucht, strukturelle Bedingungen der Psychotherapie mit Geflüchteten, Umgang mit Traumasymptomen und Stabilisierung in Belastungssituationen uvm. Darin wird ein Kleiderschrank als Bild für eine traumatische Situationen und deren Bearbeitung gewählt. Erläutern Sie dieses Bild mal ein wenig?
vom Felde: Das Bild vom unordentlichen Kleiderschrank symbolisiert die abgespeicherten Erinnerungen bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und wie eine Therapie helfen könnte. Wichtig ist, dass nicht jeder Mensch, der ein Trauma erlebt hat, danach eine PTBS entwickelt. Das ist nur eine von mehreren möglichen Erkrankungen und andere Personen entwickeln nie eine psychische Erkrankung.
In traumatischen Situationen können Erinnerungsstörungen entstehen. Bestimmte Erinnerungen können dann nicht so strukturiert abgespeichert werden wie Erinnerungen an Situationen, die nicht traumatisch waren.
Die unstrukturiert abgespeicherten Erinnerungen werden durch den unordentlichen Kleiderschrank symbolisiert. Dessen Tür schließt nicht mehr richtig, springt schon bei der leichtesten Berührung auf und die Kleidungsstücke fallen heraus. Das beschreibt ein mögliches Symptom bei der PTBS: Bestimmte Reize, die für andere Menschen nicht bedrohlich sind, erinnern die betroffene Person an ihre traumatische Situation, führen also dazu, dass diese Person getriggert wird.
Häufig beschreiben beispielsweise Menschen, die in ihrem Herkunftsland von staatlichen Institutionen verfolgt wurden, dass der Anblick eines Polizisten oder eines anderen Menschen in Uniform Flashbacks in ihnen auslösen. Die Betroffenen erleben dann frühere Gefühlszustände wieder und werden überflutet von ihren traumatischen Erinnerungen. Das entspricht dem Bild, in dem die Kleidungsstücke wahllos aus der geöffneten Schranktür herausfallen.
Diese Flashbacks sind sehr belastend, insbesondere, wenn sie im Alltag auftreten. Ein Flashback fühlt sich für die Betroffenen so an, als wären sie wieder in der damaligen Situation – mit allen Gefühlen, die damit einhergehen – Panik, Überforderung, Verzweiflung, Hilflosigkeit.
Bei der Traumatherapie setzt man darauf, nach einer Phase der Stabilisierung, sich vorsichtig mit diesen traumatischen Erinnerungen zu beschäftigen. Dafür kommen verschiedene Methoden infrage. Ziel der Therapie ist, die traumatischen Erinnerungen zu sortieren. Wie in einem ordentlich aufgeräumten Kleiderschrank sind diese Erinnerungen noch da, aber man hat die Kontrolle darüber, man weiß wo diese Erinnerungen sind und kann auch darauf zugreifen, man kann aber eben auch verhindern, dass Flashbacks auftreten.
Medscape: Reagieren Kinder und Erwachsene unterschiedlich auf Krieg, Gewalt und Zerstörung?
vom Felde: Grundsätzlich reagiert erst mal jeder Mensch unterschiedlich auf traumatische Situationen. Das hängt von den individuellen Bewältigungs-Ressourcen ab, die jede Person hat, vor allem aber vom sozialen Umfeld, also welche Unterstützungsmöglichkeiten es gibt.
Schon aufgrund der speziellen Entwicklungsphasen bei Kindern gibt es einen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen. Wenn in kritischen Entwicklungsphasen Situationen herrschen, in denen einfach nicht die entsprechenden Bedingungen für eine gesunde Entwicklung gegeben sind, kann das langfristige Folgen haben.
Insbesondere bei Kindern ist es wichtig zu schauen, dass extreme Belastungssituationen und Stresssituationen möglichst kurz sind, dass Eltern dabei unterstützt werden, ihre Kinder zu fördern, dass ein kinderfreundliches Umfeld geschaffen wird. Auf der anderen Seite sind Kinder sehr resilient und können mit schwierigsten Situationen irgendwie klarkommen, wenn sie zumindest Unterstützung von ihren wichtigsten Bezugspersonen haben. Und wenn die stressige Situation keine Dauersituation ist.
Medscape: Unterscheiden sich Männer und Frauen in ihren Reaktionen?
vom Felde: Es gibt sicher Unterschiede, das ist bei vielen psychischen Erkrankungen so. Die haben damit zu tun, wie Menschen – je nach ihrer Sozialisation – Belastung ausdrücken können oder dürfen und ein Gefühl dafür haben.
Beispielsweise kann es für Männer aufgrund ihrer Sozialisation schwieriger sein, Trauer auszudrücken und vermeintliche Schwäche zu zeigen. Männer in Familien denken auch häufiger, sie müssen stark sein und die Familie zusammenhalten. Das kann dazu führen, dass sich Belastungen anders äußern, auch dass Belastungen vielleicht nicht so so offen kommuniziert werden.
Medscape: Vielen Dank für das Gespräch.
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Diesen Artikel so zitieren: Psyche in Not: „Deutschland ist nicht vorbereitet“ – jeder 3. Flüchtling könnte PTBS entwickeln – wie man jetzt helfen kann - Medscape - 18. Mär 2022.
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