Kinder und Jugendliche haben nach einer Gehirnerschütterung im Verlauf ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von psychischen Erkrankungen sowie für psychiatrische Hospitalisierungen und selbstverletzendes Verhalten. Zu diesen Ergebnissen kommt eine große Datenbankanalyse aus Kanada, in der Gehirnerschütterungen und orthopädische Verletzungen verglichen wurden. Die Studie wurde in JAMA Network Open veröffentlicht [1].
„Die Frage, ob eine Gehirnerschütterung nur einen kurzen, vorübergehenden Effekt auf das Gehirn hat oder später noch gehirnbezogene Symptome auf der kognitiv-emotionalen Ebene nach sich zieht, wird immer wieder diskutiert. Untersucht wurden vor allem Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Merkfähigkeitsprobleme und Schlafstörungen“, berichtet Prof. Dr. Ingeborg Krägeloh-Mann von der Abteilung für Neuropädiatrie, Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin in Tübingen.
Langfristige Nachbeobachtung bis zu 10 Jahre
Die kanadische Studie ging einen Schritt weiter: Erstautorin Dr. Andrée-Anne Ledoux vom Children’s Hospital of Eastern Ontario Research Institute in Ottawa und ihre Kollegen untersuchten, ob Kinder und Jugendliche, die eine Gehirnerschütterung erleiden, in den Folgejahren ein erhöhtes Risiko für neue psychiatrische Diagnosen haben.
Bis zu 10 Jahre lang wurden die 5- bis 18-jährigen Kinder und Jugendlichen nachbeobachtet, die sich von 2010 bis 2020 in der kanadischen Provinz Ontario eine Gehirnerschütterung oder eine orthopädische Verletzung zuzogen.
Gut geeignete Vergleichsgruppe
„Die Vergleichsgruppe mit den orthopädischen Verletzungen ist ein großer Pluspunkt der Studie“, sagt Krägeloh-Mann. Man könne nie ganz ausschließen, dass Kinder, die sich eine Gehirnerschütterung zuziehen, möglicherweise von Haus aus „impulsiver, schusseliger, unvorsichtiger“ seien.
Aber eine Vergleichsgruppe, die ebenfalls ein Trauma erlitten habe, wenn auch ein orthopädisches, funktioniere hier noch am besten, lobt die ehemalige Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin.
Keine psychischen Vorerkrankungen erlaubt
In früheren Studien hatte sich gezeigt, dass die psychische Gesundheit nach einer Gehirnerschütterung davon beeinflusst wird, ob zuvor schon psychische Probleme bestanden hatten. Die kanadischen Forschenden schlossen in ihre Analyse deshalb nur Kinder und Jugendliche ein, bei denen im Jahr zuvor keine psychiatrische Diagnose gestellt worden war. Die Studienteilnehme durften außerdem in den 5 Jahren zuvor keine andere Gehirnerschütterung gehabt haben.
Letztlich umfasste die Analyse 152.321 Kinder und Jugendliche mit einer Gehirnerschütterung und 296.482 Kinder und Jugendliche mit orthopädischen Verletzungen. In beiden Gruppen machten Jungen jeweils etwas mehr als die Hälfte aus. Die Nachbeobachtungszeiten reichten von 1 Monat bis zu 10 Jahren.
Die Inzidenzrate für psychische Erkrankungen betrug in der Gruppe mit Gehirnerschütterungen 11.141 pro 100.000 Personenjahre. In der Vergleichsgruppe mit orthopädischen Verletzungen lag sie bei 7.960 pro 100.000 Personenjahre. Der Unterschied von 3.181 pro 100.000 Personenjahre war statistisch signifikant.
Mehr psychische Erkrankung, Hospitalisierungen, Selbstverletzung
In der Gruppe mit Gehirnerschütterungen war das Risiko, eine psychische Erkrankung zu entwickeln, um 39% höher als bei den Kindern und Jugendlichen mit einer orthopädischen Verletzung. Das Risiko für selbstverletzendes Verhalten war um 49% und das Risiko für eine psychiatrische Hospitalisierung um 47% erhöht.
Die Suizidrate war in beiden Gruppen gering, in der Gruppe mit Gehirnerschütterung lag sie bei 7 pro 100.000 Personenjahren, in der Gruppe mit orthopädischen Verletzungen bei 4 pro 100.000 Personenjahren. Der kleine numerische Unterschied war statistisch nicht signifikant.
Klinische Relevanz ist diskutabel
„Ob der Unterschied bei den psychiatrischen Diagnosen zwischen den beiden Gruppen auch klinisch relevant ist, kann man diskutieren“, sagt Krägeloh-Mann. „In beiden Gruppen steigt die Zahl der psychiatrischen Diagnosen im Verlauf an, und der Unterschied ist nicht riesig.“
Diese großen Datenmengen dienten hauptsächlich dazu, Kohorten zu beschreiben. Man könne daraus keine Kausalität ableiten, so die Kinder- und Jugendärztin.
Ein Auge auf die betroffenen Kinder haben
Auch Ledoux und ihre Kollegen lassen bei der Interpretation der Ergebnisse Vorsicht walten und spekulieren nicht über eine mögliche Kausalität. Sie schlagen aber vor, dass Ärzte, die Kinder mit einer Gehirnerschütterung betreuen, diese auf bestehende und neu auftretende psychische Symptome hin untersuchen sollten. Bei den Nachkontrollen der Gehirnerschütterung sollten die Patienten außerdem auf Suizidgedanken und selbstverletzendes Verhalten hin evaluiert werden.
Für den betreuenden Arzt oder den weiterbehandelnden Kinderarzt bedeuten diese Studienergebnisse, „dass man auf diese Kinder hinterher ein bisschen mehr aufpassen muss, ohne die Familien aber zu sehr zu beunruhigen“, schlussfolgert auch Krägeloh-Mann. Mehr sollte man aus diesen deskriptiven Daten nicht ableiten.
Akkurate Aufklärung von Patienten und Familien erforderlich
In einem Editorial weist Dr. Talin Babikian vom Department of Psychiatry and Biobehavioral Sciences und dem Steve Tisch BrainSPORT Program der University of California in Los Angeles auf die Bedeutung der „Nachrichtenübermittlung“ hin [2]. Bei der Aufklärung der Patienten und ihrer Eltern sei „eine klare Sprache und eine korrekte Benennung der Erwartungen“ entscheidend.
Kinder und Jugendliche erhalten Informationen über die möglichen Folgen einer Gehirnerschütterung nicht nur von ihrem Arzt, sondern auch von ihren Familien und Trainern, Mitschülern und Freunden und natürlich auch über die Medien. „Provokante Schlagzeilen können die Ansichten über Gehirnerschütterungen und die Erwartungen der jungen Patienten an ihre Zukunft tiefgreifend beeinflussen“, so Babikian.
Rasche Rückkehr zur Normalität vorteilhaft
Deshalb sei es wichtig, den Patienten und ihren Familien korrekte Informationen und realistische Erwartungen zu vermitteln. Die Kinder und Jugendlichen sollten außerdem so schnell wie es sicher möglich ist wieder zu ihren normalen Aktivitäten zurückkehren, um „Dekonditionierung, Vermeidung und Rückzug“ zu verhindern.
„Studien wie die von Ledoux und Kollegen stützen die Assoziation zwischen psychischer Gesundheit und Gehirnerschütterungen“, schreibt Babikian weiter. Die gute Nachricht sei aber, dass sich die meisten Jugendlichen wieder vollständig erholten. „Und für die Minderheit mit anhaltenden Symptomen trägt das bessere Verständnis der Probleme, die nach einer Gehirnerschütterung auftreten können, dazu bei, dass wir unseren Patienten besser helfen können.“
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Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Vorsicht, Spätfolgen nach Gehirnerschütterung: Mehr psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen - Medscape - 17. Mär 2022.
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