Die heftigen Kämpfe und der Beschuss haben dazu geführt, dass bislang 1,5 Millionen Menschen vor dem Krieg in der Ukraine ins Ausland geflohen sind, so das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Ärzte ohne Grenzen war 2014 bereits im Osten der Ukraine tätig, wo die Lage für die Menschen aufgrund der Kämpfe derzeit besonders hart ist.
Angesichts der aktuellen Lage leistet die international Hilfsorganisation nun Nothilfe, bisherige Projekte in der Ostukraine mussten vorerst gestoppt werden, schreibt Holger Vieth, Sprecher von Ärzte ohne Grenzen: „Unsere früheren Programme in Sjewjerodonezk (HIV-Behandlung), in Schytomyr (Tuberkulose-Behandlung) und in Donezk (medizinische Gesundheitsversorgung für vom Konflikt betroffene Gemeinden) mussten wir vorerst einstellen.“ Man habe alles getan, um eine gewisse Kontinuität in der Versorgung der Patienten zu gewährleisten.
„Der Bedarf war bereits vor den jüngsten Ereignissen hoch, da die Menschen in der Ostukraine seit acht Jahren in einem Konflikt leben. Wir sind sehr besorgt über die Auswirkungen, die der Krieg in der jetzt erneut besonders betroffenen Ostukraine auf die Patienten hat, von denen viele älter sind und an chronischen Krankheiten leiden.“
Wie Vieth schreibt, sind 3 Lastwagen mit Material zur chirurgischen Versorgung unterwegs, das Material wurde per Zug weitertransportiert und ist teilweise schon in Kiew angekommen. In der ukrainischen Hauptstadt, in Mariupol und in Kramatorsk haben Ärzte ohne Grenzen Krankenhäuser bereits mit medizinischem Material zur Behandlung von Verwundeten beliefert.
„Außerdem stehen wir mit Kliniken in der Ostukraine in Kontakt und sind bereit, sie durch Trainings für die Versorgung von Verletzten zu unterstützen. Mitarbeiter von uns sind in der Hauptstadt Kiew und in anderen wichtigen Städten wie Zhytomyr und Severodonetsk. Wir versuchen, weiteres Personal, darunter auch Chirurgen, in die Ukraine zu bringen“, so Vieth.
Mariupol: Keine Lebensmittel, kein Wasser, kein Strom
„Die Lage im Land wird von Tag zu Tag schlimmer“, berichtet Alex Wade, Notfall-Koordinator für Ärzte ohne Grenzen in der Ukraine. Die größte Sorge, so Wade, gelte der Lage in Mariupol.
„Die Stadt stand in den letzten Tagen Tag und Nacht unter schwerem Beschuss. Das Stadtzentrum wurde beschossen und in den Außenbezirken sind die Schäden noch größer. Supermärkte wurden getroffen und die Menschen haben keinen anderen Zugang zu Lebensmitteln. Sie haben Lebensmittel aus den Supermärkten geholt, die Märkte sind nun fast völlig leer. Auch die Apotheken sind praktisch leer. Es gibt keinen Strom, keine Heizung und kein Wasser. Wir stehen in direkten Kontakt zu unseren Mitarbeitern und Kollegen, mit denen wir seit Jahren zusammenarbeiten. Sie wissen nicht, woher sie Wasser bekommen können. Die Menschen trinken Regenwasser oder sammeln Schnee für Wasser. Andere haben Heizkörper aufgebrochen, um sich mit dem Wasser die Hände zu waschen. Wenn sich die Situation nicht sofort, heute, in den nächsten Tagen verbessert, wird es zu einer sehr ernsten Notlage und zu einer möglichen Katastrophe kommen“, berichtet Wade.
Oberstes Ziel: Die Versorgung der Krankenhäuser gewährleisten
Als der Krieg ausbrach, musste Ärzte ohne Grenzen sofort alle anderen Programme stoppen und auf Notbetrieb umstellen, so Wade weiter. „Es war auch nicht mehr sicher, unsere laufenden Programme fortzusetzen. Zum Glück hatten wir einige medizinische Hilfsgüter bereits im Land, die wir dann schnell an Krankenhäuser in Mariupol und Kiew verteilen konnten, die Verwundete aufnehmen. Doch auch diese Vorräte sind jetzt fast vollständig aufgebraucht.“
Oberstes Ziel von Ärzte ohne Grenzen sei, die Versorgung der Krankenhäuser so schnell wie möglich zu gewährleisten, so Wade. „Viele dieser Krankenhäuser befinden sich in Gebieten, in denen gekämpft wird. Ihr Bedarf steigt, weil sie immer mehr Verwundete aufnehmen, ihre Versorgungsketten aber unterbrochen sind. Wir stehen in direktem Kontakt mit vielen dieser Krankenhäuser. Sie haben uns bestätigt, dass sie Dutzende, in einigen Fällen auch über 100 Verwundete aufgenommen haben.“
Diese Krankenhäuser fürchteten jetzt, dass die lebenswichtigen Medikamente und Vorräte nicht mehr lange reichen, sie Patienten nicht mehr behandeln könnten, berichtet Wade. Deshalb habe die Versorgung dieser Krankenhäuser mit lebenswichtigen Medikamenten und Hilfsgütern für Ärzte ohne Grenzen weiterhin oberste Priorität.
Wade betonte, dass auch die Versorgung von Menschen, die nicht direkt durch Kriegshandlungen verletzt wurden, gefährdet ist. „Menschen, die Zugang zu Insulin oder anderen Behandlungen wie z.B. Hämodialysen brauchen, Schwangere, die Zugang zu einer sicheren Entbindung haben müssen, Menschen mit psychischen Problemen. All das sind Situationen, die – wenn der Zugang zur Versorgung unterbrochen wird – zu schweren Komplikationen und im schlimmsten Fall zum Tod führen können“, sagt Wade.
„Wir sind sehr besorgt über die Situation vor Ort. Für uns ist es im Moment am wichtigsten, dass wir weiterhin Zugang zu allen betroffenen Bevölkerungsgruppen haben. Für die Menschen in Mariupol muss sofort eine Lösung gefunden werden. Die Zivilbevölkerung darf nicht in einem Kriegsgebiet eingeschlossen sein. Menschen, die nach Sicherheit suchen, müssen das ohne Angst vor Gewalt tun können – ob sie sich entscheiden zu gehen oder zu bleiben. Die Zivilbevölkerung muss geschützt werden“, betont Wade.
Laurent Ligozat, Nothilfekoordinator in der Ukraine, fordert ebenfalls, die Sicherheit der Zivilbevölkerung zu achten: „Wir haben an den Fronten so vieler Kriegsgebiete gearbeitet und dort unermessliches Leid gesehen. Wir haben gesehen, welche Folgen es hat, wenn Menschen zwischen den Fronten gefangen sind. Deshalb lautet unser Appell: Verschont das Leben der Zivilbevölkerung!“
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Diesen Artikel so zitieren: „Von Tag zu Tag schlimmer“ – Ärzte ohne Grenzen berichten von der Situation in der Ukraine - Medscape - 9. Mär 2022.
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