In der letzten Nacht haben russische Truppen das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja mit Raketen beschossen und bald darauf eingenommen. Weltweit wächst die Angst vor einer Havarie – und viele Bürger wünschen sich Iodid-Tabletten als Schutz vor Iod-131, einem Radionuklid, das im Fallout havarierter Reaktoren zu finden war.
Wiederholen sich jetzt die Ereignisse von Tschernobyl bzw. Fukushima – und sollten Menschen Iodid-Tabletten schlucken? Ein Faktencheck.
So bewerten Experten die Sicherheit des größten AKWs in Europa
Das Australian Science Media Center hat verschiedene international tätige Experten um ihre Einschätzung zur aktuellen Beschädigung Reaktors des gebeten.
Tony Irwin, er lehrt an der the Australian National University, ist technischer Direktor SMR Nuclear Technology Pty Ltd und Vorsitzender des Engineers Australia Sydney Division Nuclear Engineering Panel, sagt: „Die 6 Kernkraftreaktoren in Saporischschja sind keine Reaktoren vom Typ Tschernobyl, sondern 950-MW-WER-320 (Druckwasserreaktoren), die 1980/86 gebaut wurden.“
Im Gegensatz zum Tschernobyl-Typ hätten sie einen Sicherheitsbehälter um den Reaktor, um jegliche Freisetzung von Radioaktivität zu verhindern. Und im Gegensatz zu Fukushima gebe es separate Wasserkreisläufe zur Kühlung des Reaktors und zur Dampferzeugung.
„Zusätzlich zu den normalen Kühlsystemen verfügen diese Reaktoren über Notkühlsysteme, die aus 4 Hydroakkumulatoren bestehen, die im Falle eines Problems passiv Kühlwasser in den Reaktor einleiten“, berichtet Irwin. „Außerdem verfügen sie über Hochdruck- und Niederdruck-Einspritzsysteme …, um eine Kernschmelze zu verhindern.“
Der Experte sagt aufgrund verfügbarer Informationen, das Feuer sei in einem Schulungsgebäude ausgebrochen. „Der Reaktor selbst ist von einem massiven Betoncontainment umgeben, das ihn vor Bränden schützt“, so Irwin.
„Gegenwärtig sieht es so aus, als ob nur Nebengebäude durch russische Raketen beschädigt wurden“, bestätigt auch David Fletcher, Professor an der School of Chemical and Biomolecular Engineering der Universität Sydney und früherer Mitarbeiter der britischen Atomenergie. Die Tagesschau spricht von einer Brandfläche von 2000 qm.
„Das eigentliche Problem ist nicht eine katastrophale Explosion wie in Tschernobyl, sondern die Beschädigung des Kühlsystems, das auch bei abgeschaltetem Reaktor erforderlich ist.“ Dies sei in Fukushima der Fall gewesen.
Was Iodid-Tabletten im Notfall bringen
Sollte es zu einer Havarie kommen, werden zahlreiche radioaktive Spaltprodukte freigesetzt, allen voran Iod-131, Caesium-137, Strontium-90 und viele mehr. Iod-Isotope haben ähnliche biologische und chemische Eigenschaften wie natürliches Iod. Das heißt, sie werden vom Körper aufgenommen und in der Schilddrüse gespeichert. Je nach Dosis steigt das Risiko von Schilddrüsenkrebs.
Durch die Einnahme von Iodid in hoher Dosierung kann die Speicherung von radioaktivem Jod verhindert werden. Laut ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände seien für Jugendliche ab 13 Jahren bzw. für Erwachsenen bis 45 Jahren dafür einmalig 130 Milligramm Kaliumiodid erforderlich. Für Ältere werde dies laut ABDA nicht empfohlen.
„Diese Dosierung unterscheidet sich um mehrere Zehnerpotenzen von der Dosierung zur Jodsubstitution (0,1 – 0,2 Milligramm täglich) bzw. um etwa das 100- bis 1.000-Fache der normalen täglichen Jod-Zufuhr mit der Nahrung“, schreibt die ABDA.
Keine eigenmächtige Prophylaxe
In einigen Ländern, wie Polen, Bulgarien, Tschechien aber auch in Österreich melden Apotheken bereits eine erhöhte Nachfrage nach Jod-Tabletten. „In den vergangenen 6 Tagen haben Apotheken in Bulgarien so viele Jod-Tabletten verkauft wie sonst im ganzen Jahr“, sagt Nikolay Kostov, Chef des Apothekenverbandes, wie Medscape berichtete. In einigen seien sie bereits ausverkauft.“ Auch Miroslava Stenkova, eine Sprecherin der Dr. Max Apotheken in Tschechien bestätigt den Trend – es sei alles ein „bisschen verrückt im Moment.“
Deutsche Experten warnen ausdrücklich vor einer Prophylaxe und Hamsterkäufen: „Apotheker raten von der selbständigen Einnahme von Jodtabletten, um sich vor einer vermeintlichen Belastung mit radioaktivem Jod zu schützen, dringend ab“, sagt Prof. Dr. Martin Schulz, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK). „Eine Selbstmedikation birgt erhebliche gesundheitliche Risiken und hat aktuell aber keinerlei Nutzen.“
Hintergrund: Bei Patienten mit Schilddrüsenüberfunktion kann die übermäßige Iodid-Zufuhr eine lebensbedrohliche thyreotoxische Krise auslösen – mit Fieber, Erbrechen, Unruhe und Angstzustände, Herzrhythmus- und Bewusstseinsstörungen bis hin zu Koma und Kreislaufversagen.
Außerdem, betont die ABDA, schütze Iodid nicht vor der Wirkung anderer radioaktiver Stoffe, wie z. B. Caesium 137, Strontium 90 oder Plutonium. Und nicht zuletzt haben Katastrophenschutzbehörden in Deutschland 189,5 Millionen Iodid-Tabletten gelagert.
„Derzeit gibt es in Deutschland keine rationale Begründung für die Einnahme hochdosierter Jod-Präparate auf Grund der Situation in der Ukraine, da keine Belastung durch radioaktives Jod gegeben ist“, fasst die ABDA zusammen.
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Diesen Artikel so zitieren: Wie gefährlich war der Beschuss des Kernkraftwerks in der Ukraine? Bürger kaufen Iodid-Tabletten – warum das keine gute Idee ist - Medscape - 4. Mär 2022.
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