Vertausche Medikamente, im Körper vergessene Gegenstände oder besonders schwere Dekubiti – Behandlungsfehler können Patienten schwer schädigen. Aber das Patientenrechtegesetz von 2013 ist laut eines Gutachtens des Sozialverbandes Deutschland (SoVD) in Hinblick auf Behandlungsfehler auf dem halben Wege stehengeblieben.
Dieses Resümee zieht jedenfalls der Medizinrechtler von der Universität Münster Prof. Dr. Thomas Gutmann, der das Gutachten „Stärkung und Weiterentwicklung der Patientenrechte in Deutschland“, für den SoVD geschrieben hat, das jetzt der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
Insgesamt 16 Baustellen hat Gutmann in dem Gesetz ausgemacht. Die am schwersten wiegende: das so genannte „Beweismaß“. Sein Gewicht entscheide vor Gericht in der Regel darüber, wer den Prozess gewinnt und wer verliert, erklärt der Jurist.
MDK: Rund 14.000 Schadensfälle im Jahr
Die Zahl der Behandlungsfehler liegt im Dunkeln. Im Jahr 2020 hat der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) 14.042 Schadensfälle begutachtet. In 4.099 Fällen wurde ein Fehler nachgewiesen, in 3.550 Fällen ein Schaden. Und in 2.826 Fällen wurde bestätigt, dass der Fehler den Schaden verursacht hat (Kausalität)“, teilt der MDK mit.
Allerdings schätzt MDK-Sprecherin Michaela Gehms die Dunkelziffer der Behandlungsfehler als deutlich höher ein. So wenden sich nicht alle möglicherweise Geschädigten über ihre Krankenkasse an den MDK, um Schadenersatzforderungen prüfen zu lassen.
Die Gutachter des MDK gehen dabei der Frage nach, ob die Behandlung sorgfältig nach dem anerkannten medizinischen Standard abgelaufen ist. Bei einem Behandlungsfehler prüft der MDK, ob der Fehler den Schaden verursacht hat, was gegebenenfalls Schadenersatzforderungen nach sich ziehen könnte.
Allerdings haben die Patienten oftmals schlechte Chancen vor Gericht. Denn nach dem Patientenrechtegesetz muss der Patient beweisen, dass wirklich das ärztliche Handeln und seine Pflichtverletzung die Ursache für den Schaden war. Dabei muss das Gericht vollständig davon überzeugt werden, dass die Behauptung des Patienten ganz wahr ist. Das heißt, der Patient muss den so genannten „Vollbeweis“ erbringen.
Gerade das ist für Patienten aber fast unmöglich. Denn sie sind Laien und können „die Abläufe in einer Behandlungssituation und deren Folgen für ihre Gesundheit in ihrer medizinischen Bedeutung nicht vollständig einordnen“, sagte Gutmann bei der Vorstellung seines Gutachtens.
Die Folge: Selbst wenn ein Behandlungsfehler mit hoher Wahrscheinlichkeit durch den Arzt begangen wurde und den Schaden verursacht hat, wird der Richter die Klage des Patienten abweisen, weil er eben nicht vollständig überzeugt ist, sondern nur mit großer Wahrscheinlichkeit. Gutmann zitierte einen vorsitzenden Richter: „Ich erlebe alltäglich Fälle, in denen der Sachverständige den einfachen Behandlungsfehler bejaht und einen ursächlichen Zusammenhang mit überwiegender Wahrscheinlichkeit annimmt. Diese Patienten verlieren den Prozess!“
Dies kann der Richter nur verhindern, wenn er den medizinischen Fehler als besonders grob ansieht. Dann kehrt sich die Beweislast um: Nun ist es an dem Arzt zu beweisen, dass er unschuldig an dem Schaden ist. Auch hier gibt es allerdings einen Haken: Es fehlen feste Kriterien dafür, was als „grob“ anzusehen ist.
Kurz: In Arzthaftungsprozessen würden oft „systematisch ungerechte Entscheidungen produziert“, sagt Gutmann. „Es herrscht einfach keine Waffengleichheit, wenn eine Partei alle Beweismittel in der Hand hält und die andere keine.“
Eine Lösung des Problems: Nur der Richter stellt den Schaden fest
Um Patienten bei einem Schadenersatzprozess fair zu behandeln wird z.B. die Proportionalhaftung, wie in Frankreich üblich, auch für Deutschland diskutiert. Bei der Proportionalhaftung wird die Wahrscheinlichkeit eines Schadens vom Gericht prozentual angegeben und der Kläger erhält entsprechende des Anteils Schadenersatz. Eine aus Gutmanns Sicht unbefriedigende Lösung.
Er tritt stattdessen dafür ein, dass bei einem Schadenersatzprozess zwar die Pflichtverletzung des Arztes nachgewiesen werden muss. „Aber ob dadurch ein Schaden entstanden ist und wie groß er ist, entscheidet das Gericht“, so Gutmann zu Medscape. Dieses Verfahren sei kein Allheilmittel, aber es vergrößere die Chancen auf ein faires Urteil.
Dass das Patientenrechtegesetz dahingehend geändert wird, sei durchaus möglich, meint Gutmann. Denn die Ampel-Koalition hat in ihren Koalitionsvertrag festgehalten, „die Beweisperspektiven der Patienten zu verbessern“.
Eine grundsätzliche Beweislastumkehr aber, also dass stets die Ärzte beweisen müssten, dass sie weder einen Fehler gemacht haben noch dass dadurch ein Schaden entstanden sei, lehnt Gutmann ab. Sie gehe zu weit. „Denn dann würden es die Ärzte sein, die kaum einen Prozess gewinnen“, sagt der Jurist. „Zudem würden die Prämien der Ärzteversicherungen wohl deutlich steigen.“
Kein Wunder, dass auch die Ärztekammern keine Notwendigkeit sehen, das Arzthaftpflichtrecht zu ändern. So teilt der Sprecher der ÄK Niedersachsen, Thomas Spieker, auf Anfrage von Medscape mit: „Änderungsnotwendigkeit in Bezug auf das Beweislastverteilungssystem im Arzthaftungsrecht zugunsten der Patienten sehen wir nicht. Die Regelungen erscheinen unseres Erachtens mit Blick auf die Rechtsprechung gut austariert.“
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Diesen Artikel so zitieren: „Systematisch ungerechte Entscheidungen“: Patienten bei Behandlungsfehlern vor Gericht deutlich benachteiligt - Medscape - 2. Mär 2022.
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