Fast 2 Drittel der Krebspatienten sind Senioren. PD Dr. Georgia Schilling stellt eine Studie vor, wie man die Fitness der Patienten evaluieren kann.
Transkript des Videos von PD Dr. Georgia Schilling:
Sehr geehrte Damen und Herren,
mein Name ist Georgia Schilling, ich bin Chefärztin der internistisch-onkologischen Rehabilitation in der Asklepios-Nordsee-Klinik in Westerland auf Sylt und ich bin auch leitende Oberärztin im Asklepios-Tumorzentrum in Hamburg.
Die Zuschauer, die mich kennen, wissen, dass ich mich gerne mit patientenzentrierten Themen befasse. Deshalb habe ich heute einen Artikel mitgebracht, der aktuell in JAMA Network Open publiziert worden ist [1]. Er stammt von Marielle Jensen-Battaglia vom University of Rochester Medical Center. Er beschäftigt sich mit der Assoziation der Onkologen-Patienten-Kommunikation mit dem funktionellen Status und der körperlichen Leistungsfähigkeit bei älteren Patienten mit malignen Tumoren. Das ist die Sekundäranalyse der Cluster-randomisierten COACH-Studie (Improving Communication in Older Cancer Patients and Their Caregivers).
Hintergrund der Studie ist, dass im Jahr 2030 mehr als 70% der Krebspatienten, die wir behandeln werden, 65 Jahre und älter sein werden. Wir wissen auch, dass die körperliche Funktionstüchtigkeit und die Leistungsfähigkeit der älteren onkologischen Patienten häufig von uns viel zu wenig adressiert werden, noch weniger behandelt werden, obwohl es gerade in dieser Patientengruppe häufig solche Einschränkungen gibt. Diese sind dann oft assoziiert mit einer vermehrten Chemotherapie-induzierten Toxizität, mit mehr Morbidität und Mortalität und letztendlich mit einer verkürzten Überlebenszeit.
Funktionstüchtigkeit der Älteren richtig einschätzen
Wir alle kennen geriatrische Assessments, um die Funktionstüchtigkeit von älteren Menschen einzuschätzen. Sie können altersbedingte körperliche Einschränkungen sehr gut identifizieren. Sie sind wesentlich sensitiver als unsere onkologischen Routine-Assessments und sie können die partizipative Entscheidungsfindung gut unterstützen. Deswegen werden sie auch von der ASCO bei Patienten ab 65 Jahren empfohlen.
Obwohl wir Onkologen uns der Wichtigkeit der körperlichen Funktionstüchtigkeit, der Fitness, der Leistungsfähigkeit bewusst sind, scheitern unsere Routine-Beurteilungen bezüglich einer adäquaten Einschätzung.
Karnofsky Performance Status und Eastern Cooperative Oncology Group Performance Status (ECOG) sind eher bei jüngeren Patienten entwickelt und validiert worden. Sie bilden die körperliche Leistungsfähigkeit der älteren Patienten nicht vollständig ab. Das sind aber die beiden Skalen, die wir in der Routine ständig benutzen.
Sie sind in der Onkologie etabliert, jeder kann mit ECOG 0 oder 2 was anfangen, genauso wie ich gelernt habe, dass man einem Patienten mit einem Karnofsky Performance Status unter 40% keine Chemotherapie mehr geben darf. Trotzdem sind die beiden Skalen bei den Älteren nicht sensitiv genug.
Geriatrisches Assessment und Arzt-Patienten-Kommunikation
Die sekundäre Analyse der Studie hat nun gefragt, welche Auswirkungen es hat, wenn Ärzten eine Zusammenfassung eines allumfassenden geriatrischen Assessments vor der Behandlung zur Verfügung steht und gleichzeitig Empfehlungen gegeben werden, wie mit bestimmten Funktionseinschränkungen umzugehen ist. Die 2. Frage war, was passiert, wenn Arzt und Patient sich über körperliche Fitness und Leistungsfähigkeit mehr austauschen.
In die Studie waren 541 Patienten im Alter über 70 Jahren eingeschlossen worden, 51% waren Männer. Sie litten an einem Tumor im Stadium 3 oder 4 oder an einem Lymphom. Sie wurden in palliativer Intention therapiert. Alle Patienten haben ein geriatrisches Assessment (GA) durchlaufen und waren in mindestens 1 Domäne eingeschränkt.
Die Behandler wurden randomisiert in eine Gruppe, die das zusammengefasste GA vor Therapie erhalten hat, und eine Standardgruppe, die diese Information nicht bekam.
Die Primäranalyse dieser Studie hat die Patientenzufriedenheit untersucht und hat das Studienziel auch erreicht. Die Patienten waren wesentlich zufriedener bezüglich der Kommunikation, wenn ein GA durchgeführt wurde.
Die Sekundäranalyse hat die Hypothese untersucht, dass die Intervention zu einer Erhöhung des Anteils der Patienten führt, die dann tatsächlich ein Gespräch mit ihrem Onkologen über körperliche Funktionseinschränkungen und eingeschränkte Leistungsfähigkeit führen und die vom Onkologen entsprechende Empfehlungen erhielten.
Ergebnisse
Patienten, die im GA als eingeschränkt klassifiziert wurden, hatten oft einen normalen Karnofsky Index. Daran sieht man die Fehleinschätzung, die uns offensichtlich ständig bei den älteren Patienten passiert. Wir schätzen sie mit dem Karnofsky Index als normal ein und das GA schätzt sie als eingeschränkt ein.
Obwohl in der Studie eingeschränkte Patienten waren, haben nur 59% der Patienten in der Standardgruppe ein Gespräch mit dem Arzt über ihre eingeschränkte Funktionsfähigkeit geführt. In der Interventionsgruppe dagegen waren es signifikant mehr, nämlich 86% der Patienten, die auf die eingeschränkte Leistungsfähigkeit von ihrem Arzt angesprochen wurden.
Auffällig war, dass die Gespräche über die eingeschränkte Leistungsfähigkeit häufiger durch den Arzt initiiert worden sind. Das wichtigste für die Patienten war, dass die Onkologen in der Interventionsgruppe diese Belange ihrer Patienten wesentlich mehr adressiert und wahrgenommen haben.
Das Fazit der Autoren für die Praxis, das ich gern unterstützen möchte, lautete: Die Verfügbarkeit eines zusammengefassten GA unterstützt die Arzt-Patienten-Kommunikation über altersbedingte Einschränkungen im körperlichen Leistungsvermögen und in der Funktionstüchtigkeit.
Die Studie unterstützt insgesamt die Sinnhaftigkeit solcher GA. Sie sind ein wichtiges Instrument in der Betreuung älterer Patienten mit Krebs in fortgeschrittenen Stadien. Sie soll uns helfen, unsere individualisierte Therapie noch besser, noch altersgerechter einzusetzen.
Ich kann das unterstützen. Wir alle sind nicht in der Lage – aus Zeitgründen, aus Kompetenzgründen – solche geriatrischen Assessments durchzuführen. Da sehe ich auch die Crux für die Praxis. Wer stellt uns diese GAs zur Verfügung, wer führt sie kompetent durch und unterstützt uns?
An der Sinnhaftigkeit für die Therapieempfehlungen bei den älteren Patienten besteht aus meiner Sicht kein Zweifel.
Also denken Sie an Ihre älteren Patienten. Wir alle sollten versuchen, sie besser einzuschätzen, mehr über ihre Funktionseinschränkungen zu sprechen, um dann die Therapie für diese Patientengruppe, die immer größer wird, noch weiter zu verbessern.
Damit ganz herzlichen Dank fürs Zuhören.
Medscape © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Fitness-Check als Überlebenshilfe bei Krebsbehandlung – wie man mit Senioren sprechen sollte, um Therapien altersgerecht zu optimieren - Medscape - 11. Apr 2022.
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