Einsamkeit: Das Einzige, was sicher hilft und zu Veränderungen führt, sind Verhaltenstherapien. Angesichts von mehr als 8 Millionen Betroffenen wäre die Aufgabe allein durch Psychotherapeuten aber nicht zu bewältigen.
Schätzungen zufolge fühlen sich 6 bis 10% der deutschen Bevölkerung fast immer oder immer einsam – und 15 bis 30% zumindest manchmal. Das berichtet Prof. Dr. Maike Luhmann, Professorin für psychologische Methodenlehre von der Ruhr-Universität Bochum, auf der Auftaktveranstaltung des Kompetenznetzes Einsamkeit (KNE).
Das Projekt soll Wissen über Einsamkeit bündeln und erweitern. Vor allem soll es Faktoren erforschen, um der Einsamkeit vorzubeugen und Strategien dagegen zu entwickeln. Beteiligt sind das Bundesfamilienministerium und das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (ISS) mit Sitz in Frankfurt und Köln.
Die Aufgabe scheint enorm. Denn allein das Phänomen Einsamkeit sei schwer zu ergründen, sagte Luhmann in ihrem Referat. Entsprechend offen sei die Definition der Einsamkeit. „Einsamkeit ist ein Gefühl, das auftritt, wenn die Beziehungen, die man hat, nicht dem entsprechen, was man sich wünscht.“
Neurowissenschaftliche Forschungsprojekte zeigten zudem, dass Einsamkeit offenbar dieselben Hirnregionen aktiviere wie körperlicher Schmerz. „Aber: Einsamkeit muss nicht körperlichen Schmerz hervorrufen“, so Luhmann.
9 Beziehungspersonen gegen die Einsamkeit
Wie viele Beziehungen es schließlich sind, die einem Gefühl der Einsamkeit vorbeugen, hängt ebenfalls vom Erleben des Einzelnen ab. Die Studie D80+, „Hohes Alter in Deutschland“ gibt den Schwellenwert, ab dem im Schnitt keine Einsamkeit mehr erlebt wird, für alte Menschen ab 80 Jahren mit 9 Beziehungen an. Allerdings sei damit noch nichts über die notwendige Qualität der Beziehungen gesagt, so Luhmann. Die Beziehungsqualität sei immerhin besser erforscht sei als die Wirkung der schieren Menge der Beziehungen.
Oft sind sehr alte Menschen betroffen, das zeigt die Studie D80+. Die Initiatoren befragten 10.000 Senioren nach ihrer Lebenssituation und Lebensqualität. Danach fühlen sich 12,1% der Befragten alten Menschen einsam. „Einsamkeit nimmt über Altersgruppen in der späten Lebensphase zu“, so die Untersuchung. 22,1% der Menschen im Alter von 90 Jahren oder älter, aber nur 8,7% der Personen im Alter von 80-84 Jahren beschreiben sich als einsam.“
Auch der Lebensort hat offenbar enormen Einfluss auf das Gefühl der Einsamkeit bei Senioren. So beschreibt sich jeder 3. Mensch (35,2%), der in einem Heim lebt, als einsam, verglichen mit 9,5% der die in einem Privathaushalt lebenden Senioren. Wer einen großen Freundeskreis (mehr als 9 Menschen im sozialen Netzwerk) pflegt und sich gesund fühlt, beschreibt sich relativ selten als einsam.
Entgegen manchen Vorurteilen existiert existiere kein Stadt-Land-Gefälle, so die Zahlen des sozialökonomischen Panels 2013. Im Großen und Ganzen sind die Menschen in der Stadt so sehr oder so wenig einsam wie auf dem Land.
Allerdings gibt es deutliche regionale Unterschiede in Deutschland. Die Forschung verzeichne ein starkes Gefälle vom Nordosten nach Südwesten. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern stehe Deutschland noch relativ gut da, erklärte Luhmann. In der EU fühlen sich 20 bis 40 Millionen Menschen einsam.
In Hinblick auf die Einsamkeit stellte die Corona-Pandemie einiges auf dem Kopf, zum Beispiel die Alterspyramide. Normalerweise gilt – je älter, um so potentiell einsamer. Seit 2017 stieg zwar die Zahl der einsamen in allen Altersgruppen an. Aber Studien aus den vergangenen beiden Jahren zeigen, dass besonders die Personen bis zu 30 Jahren und solche zwischen 30 und 40 Jahren unter Einsamkeit litten. „Erschreckend“, kommentierte Luhmann.
Einsamkeit – ein seelisches und ein soziales Problem
Die Herausforderung: Es gibt keine eindeutigen Diagnosekriterien, es gibt „nur“ den subjektiven Eindruck der Betroffenen. Unter möglichen Hilfen gegen die Einsamkeit, wie die privaten Netzwerke aufrecht zu erhalten, die sozialen Fähigkeiten der Betroffenen zu erhalten oder neue Sozialkontakte aufzubauen sticht deshalb eine Intervention hervor, so Luhmann: Die Veränderung kognitiver Muster, die Verhaltenstherapie. Dazu gibt es Daten, die belegen, dass diese Therapie gegen Einsamkeit hilft, sagt Luhmann. „Allerdings – gerade bei der Psychotherapie klaffen große Versorgungslücken.“
Nicht zuletzt deshalb will das ISS im Rahmen des KNE die Einsamkeit vor allem als soziales Phänomen erforschen und so genannte „Gelingensfaktoren“ ermitteln, die die Einsamkeit zurückdrängen können. „Einsamkeit ist noch schlecht untersucht“, erklärt Ivonne Wilke, wissenschaftliche Mitarbeiterin im KNE-Projekt gegenüber Medscape. Die Sozialforschung sei erst in den letzten Jahren auf das Thema aufgesprungen. Jetzt fehle vor allem die Praxisforschung. Die Frage sei, inwieweit auch sozialarbeiterische Interventionen gegen die Einsamkeit helfen könnten.
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Diesen Artikel so zitieren: Viele Menschen in Deutschland sind einsam – doch welche Resilienzfaktoren gibt es? Forscher suchen nach Antworten - Medscape - 23. Feb 2022.
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