Mit 66 Jahren ist schon lange Schluss: Kein Sex im Alter durch Krankheiten und durch gesellschaftliche Stigmata

Dr. Thomas Kron

Interessenkonflikte

21. Februar 2022

In unseren von Anti-Aging geprägten Zeit existiert teilweise der Irrglaube, Sex sei etwas, was nur Menschen ohne Prothesen oder Implantate hätten. Ab einem gewissen Alter, so die häufige Annahme, gehe eben nichts mehr.  

Doch die Realität sieht laut einer 2007 publizierte US-Studie anders aus. Stacy Tessler Lindau, Professorin für Geburtshilfe, Gynäkologie und Geriatrie an der Universität von Chicago, und Kollegen befragten mehr als 3.000 ältere Erwachsene zum Thema Sex. Ihr Ergebnis: 53% aller Teilnehmer im Alter von 65 bis 74 Jahren hatten im Jahr zuvor eigenen Angaben zufolge mindestens einmal Sex. In der Altersgruppe der 75- bis 85-Jährigen waren es 26%. Von den 57- bis 64-Jährigen gaben 73% an, im vergangenen mindestens einmal Sex gehabt zu haben. Die Frequenz nimmt der Studie zufolge zwar ab, doch Sex spielt immer noch eine Rolle. 

Was gutem Sex im Wege steht: Krankheiten im Alter

Denn es gibt zahlreiche Hürden und auch Hemmungen, die alte Menschen überwinden müssen, wollen sie Zärtlichkeiten austauschen und Sex haben. Dazu zählen insbesondere Erkrankungen und altersbedingte organische Veränderungen, wie ein Team um Prof. Dr. Birgitta Sträter von der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (Abteilung Köln) berichten

Hierzu gehörten beim Mann etwa Strukturveränderungen des Penis mit Reduktion der elastischen Fasern, des Kollagens und der glatten Muskulatur. Zudem nehme die Sensibilität des Penis ab, was bei manchen ansonsten somatisch gesunden Männern Ursache einer erektilen Dysfunktion sein könne. Weitere Gründe seien Prostatakarzinome und deren operative Therapie.

Bei Frauen ist laut Sträter und ihren Mitautoren „die Menopause eine Lebensphase, die nachhaltige körperliche Veränderungen nach sich zieht, die zu gestörter sexueller Gesundheit führen können“. Führend hierbei seien die Folgen reduzierter Östrogenspiegel, etwa vaginale Trockenheit. Weitere mögliche Ursachen seien Beckenbodenschwäche, Urininkontinenz, Zystozelen, Rektozelen, Enterozelen und Vaginal- bzw. Uterusprolapse. Außerdem könnten Hysterektomien und Ovarialkarzinome zu sexueller Dysfunktion führen.

Bei beiden Geschlechtern können systemische Erkrankungen das Ausleben der Sexualität beeinträchtigen, so etwa Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Bluthochdruck, Herzerkrankungen, pulmonale Erkrankungen, chronische Schmerzen und neurologische Erkrankungen wie Epilepsie, Parkinson, Multiple Sklerose und auch Demenz. Zudem könnten Antidepressiva und Neuroleptika die Libido einschränken. 

Stigmatisierung – auch heute noch ein Problem 

Im Weg stehen alten Menschen zudem unterschiedliche Arten der Stigmatisierung. So trauen sich laut Sträter und ihren Mitautoren alte Menschen unter Umständen deswegen nicht, Sexualität zu leben und zu thematisieren, weil oft suggeriert werde, dass Sexualität im Alter keine Rolle mehr spiele. Relevante Einflussfaktoren seien unter anderem Sozialstrukturen und Wertesysteme (moralische Normen) des jeweiligen Kulturkreises.  

Zu einer negativen Einstellung gegenüber Sex alter Menschen trage zudem „eine mediale Vermittlung bei, die suggeriert, dass ältere Leute asexuell und gebrechlich seien“. Oft würden ältere Menschen auf kognitive Störungen reduziert; vor allem Demenz-Erkrankungen spielten hierbei eine große Rolle. Sexuelle Übergriffe aufgrund enthemmten Verhaltens führten sogar zu der pauschalen Ansicht, „dass ältere Menschen nur krankheitsbedingt sexuelle Bedürfnisse ausleben“. 

Eine große Hürde ist außerdem die so genannte institutionelle Stigmatisierung. Laut Maggie Jones würden manche Paartherapeuten und auch viele Hausärzte bei alten Patienten das Thema Sex nicht an. Das betonen auch Sträter und ihre Kollegen. 

Zudem traue sich Untersuchungen zufolge nur ein geringer Prozentsatz der Patienten, das Thema selbst zu erwähnen. So habe zum Beispiel eine Studie ergeben, „dass lediglich 5% der untersuchten älteren Frauen selbstständig auf ihre sexuelle Gesundheit zu sprechen kommen, jedoch 20% Probleme darüber berichten, wenn der Hausarzt explizit danach fragt“. Eine weitere Studie habe ergeben, dass sich 75% der weiblichen Probanden ein entlastendes Gespräch und ggf. eine Therapie zu Problemen der sexuellen Gesundheit wünschten, jedoch nur 55% entsprechende Angebote erhielten. 

Pflegeheime: Nur noch satt und sauber? 

Ein besonders großes Problem tritt dann ein, wenn alte Menschen in einem Pflegeheim leben. Während die Sexualität in den eigenen vier Wänden gelebt werden kann, bestehen in Pflegeeinrichtungen erhebliche Einschränkungen. Der körperliche Kontakt von vielen Patienten in Pflegeheimen und geriatrischen Abteilungen beschränke sich leider meist auf Körperpflege und Essenseingabe, kritisierte Ciurea.

Bewohnern von Pflegeheimen werde viel Privatsphäre genommen und damit die Möglichkeit sich sexuell auszuleben, erklären auch Sträter und ihre Kollegen. Selbst gemeinsam in ein Heim ziehende Paare würden oft räumlich getrennt, ohne dass das Thema des Verlustes von Körperlichkeit näher betrachtet werde. Darüber hinaus sei das Personal in solchen Einrichtungen weiterhin unzureichend über sexuelle Gesundheit älterer Menschen informiert; entsprechende Weiterbildungsmöglichkeiten seien selten.   

Erschwert werde alten Menschen in Pflegeheimen ein erfülltes Intimleben insbesondere durch Demenzen. Betroffene sind anfälliger für sexuelle Übergriffe und verhalten sich manchmal sexuell unangemessen, etwa Patienten mit frontotemporaler Demenz. „Nur wenige Seniorenwohngemeinschaften bieten viel – wenn überhaupt – sexuelle Informationen für die Bewohner oder Schulungen für das Personal an“, schreibt Maggie Jones.

Ein Sexualpädagoge habe ihr zum Beispiel von einer älteren Frau erzählt, die in einem Seniorenzentrum nach Informationen über Sex und Altern gesucht habe. Sie habe auf dem Computer nicht darauf zugreifen können, weil das Wort „Sex“ blockiert gewesen sei – vielleicht, um zu verhindern, dass die alten Herrschaften pornographische Webseiten besuchten. Möglicherweise kommt ja doch zuerst die Moral – und dann, vielleicht, erst alles andere, was für ein erfülltes und gesundes Leben notwendig ist.

Der Artikel ist im Original erschienen auf Univadis.de.

 

Kommentar

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