Während der COVID-19-Pandemie sind mehr Kinder an Typ-1-Diabetes erkrankt – aber was sind die Gründe?

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

18. Februar 2022

In der COVID-19-Pandemie sind offenbar mehr Kinder und Jugendliche an Typ-1-Diabetes erkrankt als in den Jahren davor. Das zeigen internationale Studien, aber auch eine aktuelle Auswertung des deutschen DPV-Registers (DPV: Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation).

In den letzten 3 Jahrzehnten sei die Typ-1-Diabetes-Inzidenz zwar weltweit jedes Jahr angestiegen, schreiben der Kinderdiabetologe PD Dr. Clemens Kamrath vom Universitätsklinikum Gießen und seine Kollegen in Diabetes Care  [1]. Aber ihre Registerstudie zeigt, dass das Erkrankungsrisiko in der COVID-19-Pandemie um 15% höher war als in den Vorjahren.

Vorerst nur eine Hypothese

Für PD Dr. Burkhard Rodeck, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), handelt es sich bei dieser Beobachtung durchaus um einen Grund zur Sorge.

Der Osnabrücker Kinderarzt weist im Gespräch mit Medscape aber auch darauf hin, dass die Studie erst einmal nur Hypothesen generieren und nichts über mögliche Gründe für die Beobachtung aussagen könne. „Aus dieser Studie ergeben sich verschiedene Fragestellungen, die jetzt im Anschluss durch weitere Untersuchungen beantwortet werden müssen.“

 
Aus dieser Studie ergeben sich verschiedene Fragestellungen, die jetzt im Anschluss durch weitere Untersuchungen beantwortet werden müssen. PD Dr. Burkhard Rodeck
 

Von Januar 2020 bis Ende Juni 2021 wurden im DPV-Register 5.162 Neuerkrankungen an Typ-1-Diabetes registriert. Für diesen Pandemiezeitraum ergibt sich somit eine Inzidenz von 24,4 pro 100.000 Personenjahren. Basierend auf den Zahlen aus den Vorjahren wären aber nur 21,1 Neuerkrankungen pro 100.000 Personenjahren zu erwarten gewesen, berichten die Autoren um Kamrath.

Indirekte oder direkte Effekte der Pandemie?

In einigen Pandemiemonaten war das Risiko, an Typ-1-Diabetes zu erkranken, höher als in anderen: Im Juni 2020 war das Erkrankungsrisiko um 43% erhöht, im Juli 2020 um 48%, im März 2021 um 29% und im Juni 2021 um 39%.

Die Autoren um Kamrath schlussfolgern, dass in der COVID-19-Pandemie in Deutschland ein signifikanter Anstieg der Typ-1-Diabetes-Inzidenz bei Kindern zu beobachten gewesen sei. „Die zugrundeliegenden Ursachen sind noch unbekannt. Allerdings sind indirekte Effekte der Pandemie wahrscheinlicher als direkte Ursachen.“

 
Indirekte Effekte der Pandemie sind wahrscheinlicher als direkte Ursachen. PD Dr. Clemens Kamrath und Kollegen
 

Zusammenhang zwischen Virusinfektionen und Autoimmunvorgängen

Grundsätzlich seien direkte Effekte einer Infektion mit SARS-CoV-2 möglich, erklärt Rodeck: „Virusinfektionen können Autoimmunvorgänge induzieren, und Typ-1-Diabetes ist eine Autoimmunerkrankung.“ Allerdings spielten Coronainfektionen zu den Zeitpunkten, zu denen die Erfassung durchgeführt wurde, in der jungen Generation nur eine untergeordnete Rolle. „Die Inzidenzen waren zwar da, sind aber nicht so wie jetzt bei Omikron durch die Decke geschossen“, so der Pädiater.

 
Virusinfektionen können Autoimmunvorgänge induzieren. PD Dr. Burkhard Rodeck
 

Kamrath und seine Kollegen weisen außerdem darauf hin, dass die Autoimmunität und die fortschreitende Zerstörung der Betazellen üblicherweise lange vor der klinischen Manifestation eines Typ-1-Diabetes beginnen. Deshalb sei es überraschend gewesen, dass die Inzidenz des Typ-1-Diabetes dem Peak der COVID-19-Inzidenz und auch der pandemischen Eindämmungsmaßnahmen in einem Abstand von nur 3 Monaten folgte.

Mögliche indirekte Effekte der Pandemie und der Lockdown-Maßnahmen auf die Diabetesinzidenz gibt es dagegen viele: So haben durch die empfohlene soziale Isolation ansonsten häufige und typische Infektionskrankheiten bei Kindern drastisch abgenommen.

Folge von zu wenig Infektionen?

Von Allergien wisse man, dass ihre Entstehung damit zusammenhänge, wie Kinder aufwüchsen, so Rodeck. „Es gibt eine Zeit in ihrem Leben, in der sie sich mit Virusinfektionen auseinandersetzen müssen, und die Auseinandersetzung mit diesen Keimen schützt sie langfristig davor, bestimmte Erkrankungen zu bekommen.“ Die Abnahme an Biodiversität könne auch mit vermehrten Autoimmunerkrankungen in Zusammenhang gebracht werden.

Auf die Viruskarenz im Lockdown folgte nach der Lockerung der Maßnahmen bei manchen Infektionskrankheiten ein Rebound. Deren verstärktes Auftreten könnte beim Anstieg der Typ-1-Diabetes-Inzidenz ebenfalls eine Rolle gespielt haben: „Im Herbst letzten Jahres waren die Kinderkliniken voll mit RSV-Infektionen, das kannten wir aus den Jahren vorher in diesem Umfang und so früh nicht“, berichtet Rodeck.

Anstieg der Inzidenz nicht nur in Deutschland

Der Anstieg der Inzidenz an Typ-1-Diabetes während der COVID-19-Pandemie ist kein deutsches Phänomen. Studien aus anderen Ländern kommen zu ganz ähnlichen Ergebnissen.

In den USA berichten etwa Pädiater aus einem Kinderkrankenhaus in San Diego für das erste Pandemiejahr von einem Anstieg der Inzidenz an Neuaufnahmen wegen Typ-1-Diabetes um 57% – verglichen mit dem Vorjahr.

Und eine kleine Studie aus Finnland zeigt, dass 2020 signifikant mehr Kinder wegen eines neu aufgetretenen Typ-1-Diabetes auf eine Kinderintensivstation aufgenommen werden mussten – 20 versus 6,25 in den Jahren 2016 bis 2019.

Bislang alles „nur spekulativ“

DGKJ-Generalsekretär Rodeck betont dennoch: „Die verschiedenen Überlegungen sind bislang alle nur spekulativ. Wir haben keine Evidenz, die für die eine oder andere Hypothese sprechen würde. Wir brauchen detaillierte weitere Studien, um herauszufinden, durch welche Ursachen es zu der Beobachtung einer erhöhten Inzidenz von Typ-1-Diabetes bei Kindern gekommen ist.“

 
Die verschiedenen Überlegungen sind bislang alle nur spekulativ. PD Dr. Burkhard Rodeck
 

 

Kommentar

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