Fall: Anästhesie mit Folgen. Nach der Narkose spricht ein junger Niederländer nur noch Englisch. Ihr Verdacht? 

Dr. Thomas Kron

Interessenkonflikte

17. März 2022

Nach einer Knie-Operation unter Narkose wird ein 17-jähriger niederländischer Gymnasiast in die Klinik für Psychiatrie der Universität von Maastricht vorgestellt. Der Grund: Er verstand und sprach seine Muttersprache nicht mehr. Stattdessen kommunizierte er auf Englisch [1]

Der Patient hatte keine psychiatrischen oder andere Erkrankungen (abgesehen von einem gut kontrollierten Faktor-V-Leiden) und war zum ersten Mal operiert und anästhesiert worden. Auch seine psychiatrische Anamnese (einschließlich der Familien-Anamnese) war unauffällig. Die Muttersprache des Patienten war Niederländisch, Englisch hatte er in der Schule gelernt. Er hatte keine Verwandten in einem englischsprachigen Land und war auch in letzter Zeit in keinem solchen Land gewesen.

Die Anästhesie war mit verschiedenen Medikamenten eingeleitet worden. Nach der Operation wurde der verwirrte Patient in den Aufwachraum gebracht, wo eine Krankenschwester bemerkte, dass er Englisch sprach. Er sagte wiederholt, sich in den Vereinigten Staaten von Amerika zu befinden. Seine Muttersprache hingegen konnte er weder sprechen noch verstehen. Dies war auch einige Stunden nach der Operation noch der Fall. 

Körperliche und apparative Untersuchungen

Auch 18 Stunden nach der Operation beantwortete der junge Mann Fragen nur auf Englisch, das er mit niederländischem Akzent sprach. In seiner Muttersprache gab er nur kurze Antworten, was ihm schwerzufallen schien. Seine Konzentration schien nicht gestört zu sein. Während des Gesprächs wurden keine Gedankenverwirrungen oder Halluzinationen festgestellt. Seine Intelligenz wurde als durchschnittlich eingeschätzt. Hinweise auf eine Denkstörung gab es nicht. 

Etwa 24 Stunden nach der Operation verstand und sprach der junge Mann wieder Niederländisch. Interessanterweise habe er, so die Autoren, angegeben, sich bewusst gewesen zu sein, in der unmittelbaren postoperativen Phase nur Englisch gesprochen und verstanden zu haben. 

Die neurologische Gesamtuntersuchung blieb unauffällig. Dem Neurologen zufolge habe es keine Indikation für eine weitergehende Diagnostik gegeben. Der Patient wurde daher 1 Tag später aus dem Krankenhaus entlassen. 

3 Wochen später berichtete er bei einem Folgetermin in der psychiatrischen Ambulanz, keine Schwierigkeiten beim Gebrauch seiner Muttersprache zu haben. Allerdings gab er an, dass seine Konzentrationsfähigkeit nachgelassen habe und er sich Informationen schlechter als zuvor merken könne. Diese Symptome sollen dann im weiteren Verlauf besser geworden sein. 

Fast 1 Jahr nach der Operation wurde eine neuropsychologische Untersuchung wegen subjektiver Gedächtnisbeschwerden durchgeführt. Sie ergab eine hohe Leistungsmotivation des inzwischen 18-Jährigen. Seine Leistungen im Test waren insgesamt durchschnittlich bis sehr gut. Kurze Zahlen- und Wortreihen konnte er sich jedoch nur unterdurchschnittlich merken. Bei der Prüfung des Wortschatzes und der visuellen Raumwahrnehmung schnitt er gut ab. Die Untersuchungen ergaben keinen Hinweis auf eine kognitive Beeinträchtigung. 

Diskussion

Die neurologische Diagnose lautet „foreign language syndrome“ (FLS). Eine Literaturrecherche habe insgesamt acht Berichte zum FLS ergeben, berichten die Autoren. Dabei handelte es sich überwiegend um ältere Menschen, 6 der 8 Patienten waren über 50 Jahre alt, ein Patient war 28 und in 1 Fall war das Alter unbekannt. Alle Patienten waren Männer. Fentanyl, Midazolam und Propofol waren die häufigsten Anästhetika in Zusammenhang mit dem FLS.  

Die genaue Pathophysiologie bleibt unklar. Nicht geklärt sei vor allem, ob es sich um ein eigenständiges Syndrom oder um einen Phänotyp eines anderen Syndroms oder einer anderen Störung handelt, etwa des in der Kinderanästhesie bekannten Emergence Delirium (ED), so die Autoren weiter.

Der Artikel ist im Original auf Univadis.de erschienen. 

 

Kommentar

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