10 Tipps aus der Praxis für den Umgang mit Long-COVID-Patienten – US-Experten berichten von ihren Erfahrungen in einem Hot-Spot

Damian McNamara

Interessenkonflikte

15. Februar 2022

Nach wie vor ist das Long-COVID-Syndrom schwer zu fassen. Es entwickelt sich ständig weiter, und immer wieder überrascht es Ärzte und Patienten, die unter den langanhaltenden und stark beeinträchtigenden Symptomen leiden.

Wenig an dieser Krankheit scheint derzeit vorhersehbar zu sein. Die Betroffenen können das Long-COVID-Syndrom nach einem asymptomatischen, leichten oder schweren COVID-19-Verlauf erleiden. Zudem kann sich die Symptomatik des Long- (oder Post-)COVID-Syndroms in sehr unterschiedlicher Weise manifestieren.

Um diese Ungewissheit zu beseitigen, hat das Gesundheitsministerium des US-Bundesstaates New York Experten aus den Bereichen Primärversorgung, Pädiatrie, physikalische Medizin, Rehabilitation und Lungenheilkunde versammelt, um einige drängende Fragen zu beantworten.

„In den USA war New York im Jahr 2020 das erste Epizentrum der Pandemie und damit auch der erste Brennpunkt für das Long-COVID-Syndrom“, sagt Dr. Emily Lutterloh, Direktorin der Abteilung für Epidemiologie beim New York State Department of Health.

1. Was tun Sie bei der Vorstellung eines Patienten mit Verdacht auf Long-COVID-Syndrom?

Es gibt so viele verschiedene Erstuntersuchungen, wie es Long-COVID-Spielarten gibt, sagt Dr. Benjamin Abramoff, Facharzt für physikalische Medizin und Rehabilitation an der Penn Medicine und Leiter der Long-COVID-Klinik an der Universität von Pennsylvania in Philadelphia.

Die Bewertung der vorherigen und aktuellen Therapien helfe bei der Lenkung der weiteren Behandlung, erklärt Dr. Zijian Chen, medizinischer Leiter des Zentrums für Long-COVID-Pflege am Mount Sinai Health System in New York City.

2. Helfen Impfungen bei Patienten mit Long-COVID-Syndrom?

„Alles, was wir tun können, um zu verhindern, dass Personen schwer an COVID-19 erkranken oder ins Krankenhaus eingeliefert werden, hilft auch gegen das Long-COVID-Syndrom“, sagt Abramoff.

 
Alles, was wir tun können, um zu verhindern, dass Personen schwer an COVID-19 erkranken oder ins Krankenhaus eingeliefert werden, hilft auch gegen das Long-COVID-Syndrom. Dr. Benjamin Abramoff
 

„Das bespreche ich immer mit den Patienten. Manchen Studien zufolge bessern sich die Symptome bei einem Teil der Patienten nach einer Impfung“, so der Arzt.

3. Welche Art von Therapien halten Sie für Ihre Patienten für hilfreich?

Für Abramoff ist die Rehabilitation ein wichtiger Bestandteil der Genesung nach einem Long-COVID-Syndrom. „Es ist sehr wichtig, das Ganze sehr patientenspezifisch zu gestalten.“

„Wir haben Patienten, die arbeiten. In einigen Fällen gehen sie bereits ins Fitnessstudio, aber sie haben nicht das Gefühl, dass sie noch die gleiche Ausdauer wie vor der Erkrankung haben“, sagt er. „Und dann haben wir wiederum Patienten, deren ständige Müdigkeit so lähmend wirkt, dass sie das Bett nicht mehr verlassen können.“ Ein Trainingsprogramm kann Long-COVID-Patienten helfen.

 
Bei der Genesung dieser Patienten spielen die verschiedenen Therapierichtungen eine große Rolle. Dr. John Baratta
 

„Bei der Genesung dieser Patienten spielen die verschiedenen Therapierichtungen eine große Rolle“, sagt Dr. John Baratta von der Abteilung für Physikalische Medizin und Rehabilitation an der Universität von North Carolina.

Doch durch die begrenzte Anzahl an Kliniken, in denen COVID-Patienten über längere Zeit behandelt werden, haben manche Menschen womöglich keinen Zugang zu den verschiedenen Therapieformen, die bei den speziellen Anforderungen der Betroffenen mit Long-COVID-Symptomatik gefordert sind.

4. Wie lange benötigen die Patienten, um sich von einem Long-COVID-Syndrom nach Möglichkeit wieder zu 100% zu erholen?

Genaue Zahlen liegen zu dieser Frage nicht vor, so Baratta. „Ich kann auch nicht behaupten, dass ich einen allgemeinen Trend sähe, nachdem es bei vielen Patienten zu einer allmählichen Verbesserung der Symptome käme. Wenn es zu einer langsamen, aber stetigen Verbesserung mit der Zeit kommt, kann dies der natürliche Heilungsprozess des Körpers sein oder auch das Ergebnis von medizinischen Maßnahmen oder eben beides.“

Es könne hilfreich sein, wenn man Long-COVID-Patienten versichert, sie erst vom Haken der medizinischen Betreuung zu lassen, wenn sie das Gefühl haben, dass sie ihre maximale Gesundheit wiedererlangt haben, sagt Dr. Sharagim Kemp, medizinische Leiterin des COVID- Recovery Program der Klinikkette Nuvance Health in New York und Connecticut.

 
Es ist wichtig, realistische Erwartungen an die Genesung zu stellen. Nicht jeder wird wieder zu 100% den Zustand von vor der COVID-Erkrankung erreichen. Dr. Sharagim Kemp
 

„Es ist wichtig, realistische Erwartungen an die Genesung zu stellen. Nicht jeder wird wieder zu 100% den Zustand von vor der COVID-Erkrankung erreichen“, so Kemp. „Wenn wir dabei helfen können, die Erwartungen zurückzuschrauben, beschleunigt sich die Genesung fast von selbst, weil die Betroffenen sich nicht mehr so unter Druck setzen.“

5. Welche Symptome sehen Sie beim Long-COVID-Syndrom am häufigsten?

Man sollte sich laut Abramoff den Terminus „Long-COVID-Syndrom“ als sehr weit gefassten Oberbegriff denken. Vielfach bestätigt sei die Einschätzung, dass Müdigkeit, die als „Brain Fog“ (Gehirnnebel) bekannt gewordene Bewusstseinseintrübung oder Bewusstseinsstörung sowie Kurzatmigkeit oder andere Atemprobleme die häufigsten Symptome sind, sagt er.

Manche berichteten von eher diskreten Symptomen, so Kemp. Es kann sein, dass Menschen zum Arzt gehen, „ohne zu wissen, dass sie COVID-19 haben. Einer der wichtigsten Punkte an dieser Stelle ist es, an die Möglichkeit von COVID zu denken, wenn sich Patienten mit mehreren Symptomen vorstellen“, erklärt Kemp.

Aus diesem Grund können Patienten über Symptome berichten, die nicht unbedingt in ein Fachgebiet passen, sagt Dr. Sarah J. Ryan, Internistin am Columbia University Irving Medical Center in New York. Die Betroffenen sagen, sie seien „einfach nicht sie selbst“ oder nach dem Abklingen der COVID immerzu müde.

6. Besteht ein Zusammenhang zwischen schweren COVID-Fällen und schweren Long-COVID-Erkrankungen?

„Das ist überhaupt nicht der Fall. Ich würde sagen, dass über 80% der Patienten, die wir sehen, eine leichte bis mittelschwere Erkrankung hatten und nicht ins Krankenhaus mussten“, erklärt Baratta.

„Bei Kindern und Jugendlichen verläuft das Long-COVID-Syndrom etwas anders“, sagt die pädiatrische Lungenärztin Dr. Ixsy Ramirez. Die meisten Kinder in der Long-COVID-Klinik der Universität Michigan litten zuvor nicht unter Asthma oder anderen Lungenerkrankungen, wie man vielleicht erwarten würde. Viele der Patienten sind sogar Sportstudenten oder waren es zumindest, bevor sie das Long-COVID-Syndrom bekamen.

 
Bei Kindern und Jugendlichen verläuft das Long-COVID-Syndrom etwas anders. Dr. Ixsy Ramirez
 

In dieser Gruppe ist die Kurzatmigkeit das häufigste Merkmal, gefolgt von Brustschmerzen und Müdigkeit. Leider sind die Symptome bei vielen Kindern so schwerwiegend, dass ihre Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist, selbst wenn sie wieder an Wettkämpfen teilnehmen können.

7. Gibt es definierte Kriterien, die Sie für die Diagnose von Long-COVID heranziehen?

Zu dieser Frage gibt es beinahe täglich Neues, so Kemp. Die allgemein akzeptierte, aktuelle Definition bezieht sich auf anhaltende oder neue Symptome, die mindestens 4 Wochen nach der ursprünglichen COVID-19 auftreten, doch gebe es auch Ausnahmen.

8. Wie stellen Sie Ihre Diagnose?

Es gibt Forschungsanstrengungen für einen Labortest, der die Diagnose bestätigen kann. Doch solange es einen derartigen definitiven Biomarker im Blut nicht gibt, gleicht die Diagnosefindung hier „einer sorgfältigen Detektivarbeit“, sagt Ryan.

9. Ziehen Sie bei der Behandlung auch psychosoziale Dienste hinzu?

„Wir konzentrieren uns sehr auf die psychische Gesundheit“, sagt der Mitbegründer der COVID-Klinik seiner Einrichtung. So biete etwa Mount Sinai Einzel- und Gruppentherapien für Betroffene an. „Ich habe selbst Patienten erlebt, bei denen ich vom Ausmaß ihrer verschlechterten psychischen Gesundheit nach einer langen COVID-Phase überrascht war“.

Zu den Symptomen gehören hier eine schwere Depression, gelegentlich auch Fälle von akuter Psychose, Halluzinationen und andere Probleme, „die nach einer Viruserkrankung wirklich nicht erwartet werden“.

Stony Brook Medicine in New York betriebt eine Long-COVID-Klinik, in der mehrere Hausärzte Untersuchungen durchführen und die Patienten an entsprechende Dienste verweisen. Ein Vorteil des Angebots psychologischer Dienste für alle Long-COVID-Patienten bestehe darin, dass die Ärzte klarere Bilder der einzelnen Patienten erhalten und besser verstehen, was sie durchmachen, erklärt Abigail Chua, Lungenärztin in Stony Brook.

Ein gewisses Einfühlungsvermögen ist für Baretta unerlässlich. „Es ist wichtig sich klarzumachen, dass viele dieser Patienten ein Gefühl der Trauer oder des Verlusts über ihr früheres Leben in sich tragen.“

10. Was bringt die Zukunft?

Ideal wäre es, gäbe es einen simplen Test zur Diagnose eines Long-COVID-Syndroms und zugleich eine wirksame Therapie, die den Zustand der Betroffenen innerhalb einer Woche bessert, meint Abramoff. „Das wäre wunderbar, aber leider sind wir so weit noch nicht.“

Außerdem wäre es hilfreich, mit der Subtypen-Spezifizierung bei Long-COVID zu beginnen, damit Diagnose und Behandlung gezielter erfolgen könnten, so Abramoff. Andernfalls werde es sehr schwierig, alle Long-COVID-Patienten auf die gleiche Weise zu behandeln.

Zudem seien gute klinische Studien erforderlich, um auch die Feinheiten von Long-COVID zu erkennen.

Eine Reihe von Long-COVID-Zentren habe sich im Interesse der Forschung verbündet, um mehr Licht ins Dunkel zu bringen, sagt Chen. Zu den getroffenen Maßnahmen gehöre die Einrichtung einer Gewebebank von Long-COVID-Patienten, damit weiter in dieser Richtung geforscht werden könne.

Ein Ziel, so Chen, sei die Möglichkeit, Long-COVID wirklich zu behandeln und nicht nur seine Symptome zu bekämpfen.

Long-COVID unterstreiche, wie wichtig es sei, COVID überhaupt zu verhindern, betont Ramirez. Dies werde auch für die Zukunft wichtig bleiben, vor allem, wenn es immer noch Personen gäbe, welche die Schwere der COVID verharmlosten und die Erkrankung mit einer Erkältung verglichen. Diese Haltung sei ein Schlag ins Gesicht all derer, die unter den langfristigen COVID-Folgen zu leiden hätten.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

 

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