Ein Implantat mit 16 kleinen Elektroden und eine personalisierte Stimulation helfen Querschnittgelähmten, schneller wieder stehen und gehen zu lernen als bisher mit experimenteller Technik möglich. Das berichtet Forscher der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) um Neurochirurgin Dr.Jocelyne Bloch und Neurowissenschaftler Prof. Dr. Grégoire Courtine in Nature Medicine[1].
Experimentelles Elektrodenarray zur Neurostimulation
Die Forscher hatten 3 Probanden einen elektrischen Pulsgeber, ein Kabelbündel und das neu entwickelte Elektrodenarray implantiert. Auf dem 7 cm langen und 1,5 cm breiten Array sind 16 kleine Elektroden angeordnet. Diese werden so in der Wirbelsäule platziert, dass die Elektroden über die Nervenfasern Motoneuronen im Rückenmark stimulieren und darüber Muskeln gezielt aktivieren.

Der Patient Michel Roccati geht mit Hilfe in Lausanne über eine Brücke
Alle Patienten sind Teil der Machbarkeitsstudie STIMO, in der epidurale elektrische Mehrkanalstimulation des Rückenmarks auf ihre Eignung als Werkzeug für die Bewegungsrehabilitation untersucht werden soll.
Die elektrischen Impulse werden individuell eingestellt. Probanden wählen die gewünschte Aktivität auf dem Tablet-Computer aus. Danach werden die entsprechenden Protokolle an den Schrittmacher im Bauchraum weitergeleitet.
„Unsere neuen, weichen implantierten Elektroden sind so konzipiert, dass sie unterhalb der Wirbelsäule direkt am Rückenmark platziert werden können“, erklärt Courtine in einer Pressemitteilung der EPFL. „Sie können die Neuronen modulieren, die bestimmte Muskelgruppen regulieren. Durch die Steuerung dieser Implantate können wir das Rückenmark so aktivieren, wie es das Gehirn auf natürliche Weise tun würde, damit der Patient zum Beispiel steht, geht, schwimmt oder Fahrrad fährt.“
Bereits wenige Stunden nach Beginn der Therapie haben 3 Patienten mit vollständiger chronischer Lähmung der Beine wieder erste Muskelbewegungen hervorrufen können. Nach mehreren Monaten Training waren sie wieder in der Lage, mit Gehhilfen stundenweise zu stehen und zu gehen. Allerdings müssen Probanden diese Bewegungen über ein Tablet ansteuern.
Nächster, wichtiger Entwicklungsschritt
„Unser Durchbruch sind hier die längeren und breiteren implantierten Elektrodenarrays, bei denen die Elektroden so angeordnet sind, dass sie genau den Spinalnervenwurzeln entsprechen“, erklärt Bloch. „Das gibt uns eine präzise Kontrolle über die Neuronen, die bestimmte Muskeln steuern.
Um das Array zu entwickeln, hatten Bloch, Courtine und Kollegen 27 Wirbelsäulen analysiert und Computermodelle erstellt. Dabei stellten sie fest, dass sich die Lage der Nervenbahnen, die zu den motorischen Zentren im Rückenmark führen, von Mensch zu Mensch unterscheidet. Das Prinzip hat die Forschergruppe bereits 2018 vorgestellt. Mit der verbesserten Technik sei es nun möglich, mehr Muskeln zu bewegen und vollständig chronisch gelähmte Patienten zu therapieren.
„Der wesentliche Entwicklungsschritt gegenüber dem bereits 2018 vorgestellten Prinzip liegt in einer Erweiterung und Personalisierung des implantierten Elektrodenarrays, im Wesentlichen über relativ aufwendige multimodale medizinische Bildgebung und moderne Modellbildungsverfahren”, kommentiert Prof. Dr. Winfried Mayr vom Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der Universität Wien, die Arbeit.

Implantiertes Elektrodenarray
„Die Arbeit hat nochmals relevante neue Erkenntnisse zur optimierten epiduralen Stimulation zu Tage gefördert, die eine raschere und effektivere Stimulation des Rückenmarks ermöglichen kann, erläutert Prof. Dr. Norbert Weidner,
Ärztlicher Direktor der Klinik für Paraplegiologie, Universitätsklinikum Heidelberg.
„Wir sind uns in vielen Fachgremien mittlerweile einig, dass es nicht die ‚eine‘ Pille oder die ‚eine‘ Methode zur Behandlung von Querschnittlähmungen geben wird. Dafür ist das gestörte System des Nervensystems viel zu komplex. Von daher sind die Ergebnisse sehr ermutigend und werden sicher ihren Platz in der Therapie finden. Spannend ist sicher, dass auch Patienten mit weitgehend kompletter Lähmung von dem Verfahren profitieren”, sagt PD Dr. Rainer Abel, Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Querschnittsgelähmte, Klinikum Bayreuth.
Erzielter Effekt ist noch kein Ersatz für den Rollstuhl
Weidner hält eine grundsätzliche Anwendung auch bei komplett Querschnittgelähmten für denkbar, bei denen im Gegensatz zu inkomplett Querschnittgelähmten keine spontane Erholung der Gehfunktion eintritt. „Allerdings geht aus der Arbeit nicht hervor, wie viele Patienten gescreent werden mussten, um tatsächlich 3 Patienten in die Studie einzuschließen. Insofern ist es schwierig, vorherzusagen, wie breit diese Technologie zur Anwendung gebracht werden kann”, sagt Weidner.
In der Zusammenschau müsse man den Autoren gratulieren, sagt Abel, gibt aber zu bedenken, dass der erreichte Gang – bei allen tollen Erfolgen – immer noch kein Ersatz für den Rollstuhl sei. „Dies betrifft sowohl die erreichten Strecken als auch die Geschwindigkeit und den notwendigen Energieeinsatz”, kommentiert Abel.
Mayr warnt vor zu viel Optimismus: „Trotz der präsentierten positiven Fallbeispiele muss betont werden, dass sich leider keine baldige Lösung für alle von Querschnittlähmung Betroffenen abzeichnet. Die 3 Personen hatten mit Sicherheit besonders günstige Voraussetzungen, die in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle fehlen.”
Credits:
Lead Image: Nataliia Mysik/Dreamstime
Image 1: EPFL / Alain Herzog 2021
Image 2: NeuroRestore-Jimmy_Ravier
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Diesen Artikel so zitieren: Implantat ermöglicht Querschnittsgelähmten stundenweises Gehen – aber keine baldige Lösung für alle Patienten in Sicht - Medscape - 10. Feb 2022.
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