Weltweit versagen die Gesundheits- und Sozialsysteme bei der angemessenen und einfühlsamen Betreuung von Sterbenden und ihren Familien. Zu diesem Schluss kommt eine Lancet-Kommission, die sich aus Gesundheits- und Sozialwissenschaftlern, Wirtschaftswissenschaftlern, Philosophen, Theologen, Politikwissenschaftlern und Patientenvertretern zusammensetzt [1].
Die derzeitige Überbetonung einer aggressiven lebensverlängernden Therapie, die enormen globalen Ungleichheiten beim Zugang zur Palliativversorgung und die hohen Kosten für die medizinische Versorgung am Lebensende haben dazu geführt, dass Millionen von Menschen am Ende ihres Lebens unnötig leiden, kritisieren die Experten.
Die Kommission fordert ein Umdenken im Hinblick auf Tod und Sterben: Weg von einem überwiegend medizinisch geprägten Ansatz hin zu einem Gemeinschaftsmodell, bei dem Familien mit Gesundheits- und Sozialdiensten zusammenarbeiten, um Sterbende zu begleiten. Die Kommission hat analysiert, wie Gesellschaften mit Tod und Sterbebegleitung umgehen und daraus Empfehlungen für politische Entscheidungsträger formuliert.
„Die COVID-19-Pandemie hat dazu geführt, dass viele Menschen unter ultimativer Therapie gestorben sind, begleitet von Personal in Masken und Schutzausrüstung, aber ohne die Möglichkeit, mit ihren Familien zu kommunizieren, außer auf digitalem Wege“, sagt Dr. Libby Sallnow, Palliativmedizinern und Dozentin am St. Christopher's Hospiz und am UCL (UK) sowie Mitvorsitzende der Kommission.
Die Art und Weise, wie Menschen sterben, habe sich in den letzten 60 Jahren dramatisch verändert: von einem familiären Ereignis mit gelegentlicher medizinischer Unterstützung zu einem medizinischen Ereignis mit begrenzter familiärer Unterstützung, sagt Sallnow. „Die Art und Weise, wie wir uns um Sterbende kümmern, unsere Erwartungen an den Tod und die Veränderungen, die in der Gesellschaft erforderlich sind, um unser Verhältnis zum Tod wieder ins Gleichgewicht zu bringen, müssen grundlegend neu überdacht werden.“
Tod und Sterben wurden übermedikalisiert und versteckt
In den letzten 60 Jahren hat sich Sterben aus der Familie und aus der Gemeinde herausgelöst und ist in erster Linie Sache der Gesundheitssysteme geworden. Im Vereinigten Königreich z.B. wird nur einer von 5 Menschen, die am Lebensende Pflege benötigen, zu Hause versorgt, während etwa die Hälfte im Krankenhaus liegt. Die weltweite Lebenserwartung ist kontinuierlich von 66,8 Jahren (2000) auf 73,4 Jahre (2019) gestiegen. Gleichzeitig stieg auch die Zahl der Jahre, die in schlechter Gesundheit verbracht werden: Von 8,6 Jahren (2000) auf 10 Jahre (2019).
Die Vorstellung, dass der Tod besiegt werden kann, wird durch die Fortschritte in Wissenschaft und Technik noch verstärkt. Die Sprache, das Wissen und das Vertrauen in die Unterstützung und den Umgang mit dem Sterben hingegen sind langsam verloren gegangen, was die Abhängigkeit von den Gesundheitssystemen weiter verschärft hat.
„Der Tod ist nicht nur ein medizinisches, sondern immer auch ein soziales, physisches, psychologisches und spirituelles Ereignis, und wenn wir ihn als solches verstehen, schätzen wir jeden Teilnehmer an diesem Drama richtig ein“, fügt die Mitautorin der Kommission, Mpho Tutu van Furth, Priesterin in Amstelveen, Niederlande, hinzu.
Weltweit sterben zu viele Menschen einen qualvollen Tod
Zwar hat die Palliativmedizin als Fachgebiet an Aufmerksamkeit gewonnen, aber bei mehr als der Hälfte aller Todesfälle spielt die Palliativmedizin oder Schmerzlinderung keine Rolle und es bestehen weiterhin gesundheitliche und soziale Ungleichheiten beim Tod. Interventionen werden oft bis in die letzten Tage fortgesetzt, wobei das Leiden selbst kaum beachtet wird, kritisieren die Autoren. Auch die Angst vor Rechtsstreitigkeiten und finanzielle Anreize trügen zu einer Überbehandlung am Lebensende bei.
Das hat einen hohen Preis. In Ländern mit hohem Einkommen entfallen zwischen 8% und 11,2% der jährlichen Gesundheitsausgaben (für die Gesamtbevölkerung) auf die weniger als 1% der Menschen, die in dem Jahr sterben. Die Versorgung im letzten Lebensmonat ist kostspielig und kann in Ländern ohne universelle Gesundheitsversorgung eine Ursache dafür sein, dass Familien in die Armut abrutschen.
„Das Sterben ist Teil des Lebens, aber es ist unsichtbar geworden und die Angst vor dem Tod und dem Sterben hat zugenommen. Unsere derzeitigen Systeme haben sowohl die Unter- als auch die Überbehandlung am Ende des Lebens verstärkt, die Würde eingeschränkt, das Leiden vergrößert und eine schlechte Nutzung der Ressourcen ermöglicht. Die Gesundheitsdienste sind zu Verwaltern des Todes geworden, und es bedarf eines grundlegenden Umdenkens in der Gesellschaft, um unser Verhältnis zum Tod neu zu gestalten“, sagt Dr. Richard Smith, Ko-Vorsitzender der Kommission.
Grundlegender Wandel in der Sterbebegleitung notwendig
Die Kommission hat 5 Grundsätze definiert:
Die sozialen Determinanten von Tod, Sterben und Trauer müssen angegangen werden, damit die Menschen ein gesünderes Leben führen und einen gerechteren Tod sterben können.
Sterben muss als ein relationaler und spiritueller Prozess verstanden werden; das bedeutet, dass Beziehungen, die auf Verbundenheit und Mitgefühl beruhen, Vorrang haben und in den Mittelpunkt der Pflege und Unterstützung sterbender oder trauernder Menschen gestellt werden.
Netzwerke für die Betreuung von Sterbenden, Pflegenden und Trauernden müssen neben den Fachleuten auch Familien und weitere Gemeindemitglieder einschließen.
Gespräche und Geschichten über den Tod, das Sterben und die Trauer müssen gefördert werden, um breitere öffentliche Gespräche, Debatten und Aktionen zu ermöglichen.
Der Tod muss als Wert anerkannt werden. „Ohne den Tod wäre jede Geburt eine Tragödie.“
Auch wenn ein umfassender Wandel Zeit brauche, verweist die Kommission auf das Beispiel von Kerala in Indien, wo Tod und Sterben in den letzten 3 Jahrzehnten durch eine breite soziale Bewegung mit Zehntausenden von Freiwilligen und durch Veränderungen in den politischen, rechtlichen und gesundheitlichen Systemen als gesellschaftliches Anliegen und Verantwortung zurückgewonnen wurden.
„Bei der Sterbebegleitung geht es wirklich darum, der verbleibenden Zeit einen Sinn zu geben. Es ist eine Zeit des körperlichen Wohlbefindens, der Akzeptanz und des Friedens mit sich selbst, der vielen Umarmungen, des Reparierens zerbrochener Beziehungsbrücken und des Aufbaus neuer Beziehungen. Es ist eine Zeit, in der man Liebe geben und Liebe empfangen kann – in Würde. Eine respektvolle Palliativversorgung erleichtert dies. Dies kann jedoch nur erreicht werden, wenn die Gemeinschaft auf breiter Basis sensibilisiert wird und Maßnahmen ergreift, um den Status quo zu ändern“, sagt Mitautor Dr. M.R. Rajagopal von Pallium India, Indien.
Um die erforderlichen weitreichenden Veränderungen zu erreichen, legt die Kommission folgende Empfehlungen vor:
Die Aufklärung über Tod, Sterben und Sterbebegleitung sollte für Menschen am Lebensende, ihre Familien und Fachkräfte im Gesundheits- und Sozialwesen von grundlegender Bedeutung sein.
Die Verbesserung des Zugangs zur Schmerzlinderung am Lebensende muss eine globale Priorität sein, und die Bewältigung von Leiden sollte neben der Verlängerung des Lebens zu den Prioritäten in Forschung und Gesundheitsversorgung gehören.
Gespräche und Geschichten über den Tod, das Sterben und die Trauer müssen gefördert werden.
Pflegenetze müssen die Unterstützung für Sterbende, Pflegende und Trauernde koordinieren.
Patienten und ihre Familien sollten klare Informationen über die Unsicherheiten sowie den potenziellen Nutzen, die Risiken und die Schäden von Interventionen bei potenziell lebensbegrenzenden Krankheiten erhalten, um fundiertere Entscheidungen treffen zu können.
Die Regierungen sollten in allen Ländern Maßnahmen zur Unterstützung informell Pflegender und bezahlten Urlaub für Trauerarbeit schaffen und fördern.
Credits:
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Diesen Artikel so zitieren: Wenn Medizin nicht mehr die Lösung ist: Experten fordern radikales Umdenken in der Sterbebegleitung - Medscape - 2. Feb 2022.
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