Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hat gemeinsam mit weiteren Fachgesellschaften und Organisationen zum ersten Mal eine S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der Kohlenmonoxidvergiftung herausgegeben. Diese ist auf der Homepage der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und der DIVI veröffentlicht [1].
Die Leitlinie richtet sich auch an die Feuerwehr und Rettungsdienste
Die Empfehlungen, die in 5-jähriger gemeinsamer Arbeit entstanden sind und entweder im starken Konsens (Zustimmung von mehr als 95% der Teilnehmer) oder im Konsens (Zustimmung von mehr als 75% bis 95%) verabschiedet wurden, richten sich nicht nur an Ärzte, sondern auch an Mitarbeiter der Feuerwehr, der Rettungsdienste und an weiteres medizinisches Assistenzpersonal.
„Unser Ziel war es, Menschen mit einer Kohlenmonoxidvergiftung künftig besser medizinisch zu versorgen und ihre Behandlung bestmöglich planen zu können“, sagt der Koordinator der Leitlinie, Prof. Dr. Björn Jüttner, Sprecher der Sektion Hyperbarmedizin in der DIVI und leitender Oberarzt an der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), im Gespräch mit Medscape.
Vor allem das Gehirn und das Herz nehmen rasch Schaden
Kohlenmonoxid (CO) ist ein geruch- und farbloses Gas, das bei unvollständiger Verbrennung kohlenstoffhaltiger Substanzen entsteht. Mögliche Expositionsquellen sind Brände, defekte Heizungsanlagen, Kamine und Öfen, unzureichend belüftete Garagen, Holzpelletslager, innerhäuslich genutzte Holzkohlegrills und Wasserpfeifen, wie sie unter anderem in Shisha-Bars geraucht werden.
Das Gas bindet stärker als Sauerstoff an den Blutfarbstoff Hämoglobin (Hb), wodurch bei einer Vergiftung insbesondere das Gehirn und das Herz durch die mangelnde Sauerstoffversorgung rasch Schaden nehmen können. Aus Sicht der Leitliniengruppe ist daher ein Einsatz von Rauch- und Kohlenmonoxid-Warngeräten auch in jedem Privathaushalt sinnvoll.
Jährlich werden rund 4.000 Fälle von CO-Vergiftungen stationär behandelt
Wie oft Menschen in Deutschland eine Kohlenmonoxidvergiftung erleiden, ist unklar. Geschätzt rund 4.000 Menschen im Jahr werden aus diesem Grund stationär aufgenommen. „Die Dunkelziffer der Patienten, die entweder gar nicht oder ambulant behandelt werden, dürfte aber deutlich höher sein“, betont Jüttner.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamts sterben jährlich etwa 600 Menschen an den Folgen einer Kohlenmonoxidvergiftung. „Es ist somit eine seltene Erkrankung, aber dennoch die häufigste Form der Gasvergiftung“, sagt Jüttner.
Ihre Symptome, vor allem wenn die Vergiftung nur leicht ist, sind eher unspezifisch. Im Vordergrund stehen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel und allgemeines Unwohlsein. Nach einer Kohlenmonoxidvergiftung besteht die Gefahr von verzögert einsetzenden neurologischen Einschränkungen wie Ataxien, Gedächtnisstörungen, Konzentrationsdefiziten, Verhaltensauffälligkeiten, Depressionen, Ängsten, Dyskalkulien oder Innenohrproblemen. Zudem erhöht sich durch sie – retrospektiven Studien zufolge – das Risiko späterer kardiovaskulärer Ereignisse.
Kontroversen gab es insbesondere um die hyperbare Sauerstofftherapie
Eine besondere Herausforderung bei der Erstellung der neuen Leitlinie, die vorerst bis November 2026 gültig sein soll, sei die kontroverse Diskussion um den Nutzen und die Risiken der hyperbaren Sauerstofftherapie gewesen, berichtet Jüttner. Man habe nun aber einen nationalen Konsens für deren Einsatz bei der Versorgung von Patienten mit einer Kohlenmonoxidvergiftung erreicht. „Die neuen Empfehlungen entsprechen dem aktuellen wissenschaftlichen Diskurs und bieten den Anwendern der Leitlinie dennoch einen therapeutischen Korridor“, sagt Jüttner.
Demnach wird die Behandlung in der Druckkammer, durch die das Kohlenmonoxid besonders schnell aus dem Körper entfernt werden soll, künftig schwer vergifteten Erwachsenen empfohlen, die entweder tief bewusstlos sind oder Bewusstseinsstörungen aufweisen, beispielsweise desorientiert sind. Auch bei Atem- und Herz-Kreislauf-Beschwerden sowie bei schwangeren Frauen, deren ungeborene Kinder durch Kohlenmonoxid besonders gefährdet sind, soll die hyperbare Sauerstofftherapie nach Möglichkeit angewandt werden.
Für die Therapie in der Druckkammer gibt es nur ein schmales Zeitfenster
„Als sinnvoll wird das Verfahren in den Leitlinien aber nur dann erachtet, wenn die Behandlung, die 3-mal innerhalb von 24 Stunden durchgeführt werden sollte, in einem Zeitfenster von 6 Stunden nach Erkennen der Vergiftung begonnen werden kann“, sagt Jüttner. Später bringe sie wahrscheinlich keinen Zusatznutzen mehr. Für Kinder, insbesondere für Babys und Kleinkinder, werde die hyperbare Sauerstofftherapie nicht oder allenfalls in Ausnahmefällen empfohlen.
Mögliche Risiken, die mit der Methode einhergehen, sind Druckausgleichsprobleme, das Auftreten einer Klaustrophobie und Krampfanfälle. „Letztere sind allerdings sehr selten und in der Regel gut kalkulier- und beherrschbar“, sagt Jüttner. Ein Problem sei aber, dass die Therapieform in Deutschland nicht allen Ärzten präsent sei und auch nicht flächendeckend zur Verfügung stehe. „Vielfach werden dadurch Sekundärtransporte notwendig, die natürlich neue potenzielle Risiken beinhalten.“
Von einigen Fachgesellschaften gibt es Sondervoten
Unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) und die Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) hatten sich für die Aufnahme eines Sondervotums in dem Leitlinien-Text starkgemacht. In diesem heißt es nun: „Aufgrund der fehlenden Evidenz bleibt für die DGINA und DGIIN unklar, ob die hyperbare Sauerstofftherapie gegenüber der normobaren Sauerstofftherapie einen Vorteil bietet, auf lange Sicht das neurokognitive Behandlungsergebnis zu verbessern.“
Wegen Risiken und potenzieller Komplikationen einer hyperbaren Sauerstofftherapie bleibe die Entscheidung für oder gegen sie eine Individualentscheidung. Patienten mit einer Kohlenmonoxidvergiftung sollten entweder eine hyperbare Sauerstofftherapie oder eine normobare Sauerstofftherapie mit hohen Flussraten erhalten, empfehlen die beiden Fachgesellschaften.
Für Kinder kommt die hyperbare Sauerstofftherapie seltener in Betracht
Auch die Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin (GNPI) steht der Behandlung in der Druckkammer nicht unkritisch gegenüber. „Die evidenzbasierte Datenlage hinsichtlich der therapeutischen Effektivität einer hyperbaren Sauerstofftherapie (HBOT) einer Kohlenmonoxidvergiftung im Kindesalter ist unzureichend“, heißt es in ihrem Sondervotum. „Eine Übertragung der ebenfalls durch reduzierte Evidenz gekennzeichneten Erfahrungen im Erwachsenenalter ist aufgrund pädiatrischer Besonderheiten nicht ohne weiteres zulässig.“
Angesichts dessen würden die zu erwartende Belastung und Gefährdung durch den Transport zu einer HBOT-Einrichtung und während der Durchführung dieser Therapie stärker ins Gewicht fallen, betont die GNPI. „Eine HBOT bei Kohlenmonoxidvergiftung im Kindesalter kann daher nur in besonderen Einzelfällen erwogen werden.“ Unabdingbar sei die frühestmögliche kontinuierliche Verfügbarkeit pädiatrisch-intensivmedizinischer Expertise in der Betreuung dieser Patienten.
Wichtigste Diagnosekriterien sind die Symptome und die Anamnese
Generell gilt eine Sauerstoffgabe ohne Überdruck als die wichtigste Maßnahme der präklinischen Therapie: „Bei Verdacht auf eine Kohlenmonoxidvergiftung soll sofort mit einer 100% Sauerstoffatmung oder -beatmung begonnen werden“, heißt es dazu in der Leitlinie.
Hinweise auf diese Form der Vergiftung können die Symptome, eine nachgewiesene oder wahrscheinliche Exposition mit Kohlenmonoxid und der im Blut gemessene CO-Hb-Wert des Patienten geben. Ein negativer CO-Hb-Nachweis solle allerdings nicht zum Ausschluss einer Kohlenmonoxidvergiftung führen, wenn Anamnese und Symptome übereinstimmend seien, betonen die Experten.
Credits:
© Yurii Kibalnik
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Diesen Artikel so zitieren: Auch für Feuerwehr und Sanitäter: Erste S2k-Leitlinie zur Kohlenmonoxidvergiftung: Wie erkennt und behandelt man sie? - Medscape - 1. Feb 2022.
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