Frühgeborene mit Atemnot-Syndrom: Studie sät Zweifel an minimalinvasiver Surfactant-Therapie – Kritik von Experten

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

28. Januar 2022

Eine neue Studie sät Zweifel an der in Deutschland weit verbreiteten Therapie von Frühgeborenen mit Atemnotsyndrom mittels Surfactant, das über eine dünne Sonde gegeben wird. In der Studie verringerte die minimalinvasive Surfactant-Therapie (MIST) die Wahrscheinlichkeit eines zusammengesetzten Endpunkts aus Tod oder bronchopulmonaler Dysplasie nicht signifikant.

 
Wenn man die Studie im Detail ansieht, fällt auf, dass von der ursprünglichen Studienpopulation nur jedes 10. Kind eingeschlossen worden ist. Dr. Michael Ehlen
 

Das berichten Dr. Peter A. Dargaville vom Menzies Institute for Medical Research, University of Tasmania in Hobart, Australien, und seine Kollegen jetzt in JAMA  [1]. Grundlage ihrer Arbeit war eine klinische Studie mit 485 Säuglingen mit einem Gestationsalter von 25 bis 28 Wochen.

„Wenn man die Studie im Detail ansieht, fällt auf, dass von der ursprünglichen Studienpopulation nur jedes 10. Kind eingeschlossen worden ist“, kritisiert Dr. Michael Ehlen im Gespräch mit Medscape. Er ist Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Marienhaus Klinikum Bendorf – Neuwied – Waldbreitbach. „Hier kommt es zu einem relativ großen Bias.“ Ihn habe auch die relativ hohe Rate an Komplikationen in der Studie überrascht.

„Wir sind in der Klink selbst große Anhänger der minimalinvasiven Surfactant-Therapie und machen das auch bei sehr kleinen Frühgeborenen“, sagt Ehlen. Er selbst würde mit der Behandlung auch nicht so lange warten wie in der Studie. Dies sei eine mögliche Erklärung für Komplikationen. Außerdem gebe es keine Informationen, wie die Kontrollgruppe therapiert worden sei, beispielsweise mit Kortikosteroiden.  

 
Wir sind in der Klink selbst große Anhänger der minimalinvasiven Surfactant-Therapie und machen das auch bei sehr kleinen Frühgeborenen. Dr. Michael Ehlen
 

Ehlens Fazit zur Studie: „In der Praxis wird sich für uns nichts ändern.“ Um die Intervention zu beurteilen, seien Daten zum exakten Vergleich der beiden Behandlungsregimes wichtig: eine relativ frühe MIST gegenüber einer Standardtherapie.

Offene Fragen zur minimal-invasiven Surfactant-Therapie

Beim Atemnotsyndrom von Frühgeborenen kommt es zu Surfactant-Mangel in einer strukturell unreifen Lunge. Das führt zum klinischen Erscheinungsbild mit Tachypnoe und/oder Dyspnoe, mit einer Zyanose sowie mit exspiratorischem Stöhnen Neugeborener.

Die Leitlinie empfiehlt, pädiatrische Patienten mit Surfactant in Kombination mit einem kontinuierlich positiven Atemwegsdruck (CPAP) zu versorgen. Bei Asphyxie mit resultierender postnataler respiratorischer Insuffizienz sollte eine Surfactant-Behandlung nach Beginn einer invasiven Beatmung erfolgen. Der Nutzen der minimal-invasiven Surfactant-Therapie (MIST) bei Frühgeborenen mit Atemnotsyndrom war bis dato unklar.

Dargaville und seine Kollegen haben deshalb eine randomisierte klinische Studie durchgeführt. Aufgenommen wurden 485 Frühgeborene im Gestationsalter von 25 bis 28 Wochen. Ihre Atmung wurde per CPAP unterstützt. An den Untersuchungen nahmen weltweit 33 neonatologische Intensivstationen teil. Die Rekrutierung fand zwischen dem 16. Dezember 2011 und dem 26. März 2020 statt; die Nachbeobachtung wurde am 2. Dezember 2020 abgeschlossen.

Säuglinge wurden randomisiert einer MIST-Gruppe (n=241) und einer Kontrollgruppe (n=244) zugeordnet. In der MIST-Gruppe erhielten sie exogenes Surfactant (200 mg/kg Poractant alfa) über einen dünnen Katheter; bei der Kontrollgruppe handelte es sich nur um eine Scheinbehandlung. CPAP wurde danach in beiden Gruppen fortgesetzt, sofern nicht Kriterien für eine Intubation vorlagen.

Als primären Endpunkt definierten Forscher ein Komposit aus Tod oder bronchopulmonaler Dysplasie (BPD).

Ergebnisse der Studie

Von allen 485 randomisierten Säuglingen (mittleres Gestationsalter 27,3 Wochen; 241 [49,7 %] weiblich) konnten Daten für die Studie erfasst werden. Tod oder BPD traten bei 105 Säuglingen (43,6%) in der MIST-Gruppe und 121 (49,6%) in der Kontrollgruppe auf. Die Risikodifferenz (RD) betrug -6,3% (95%-Konfidenzintervall [KI] -14,2% bis 1,6%). Als relatives Risiko (RR) geben die Autoren 0,87 (95%-KI 0,74 bis 1,03; p=0,10) an.

Die Inzidenz des Todes vor der 36. Gestationswoche unterschied sich nicht signifikant zwischen den Gruppen (24 [10,0%] in der MIST-Gruppe gegenüber 19 [7,8%] in der Kontrollgruppe; RD 2,1% [95%-KI -3,6% bis 7,8%]; RR 1,27 [95%-KI 0,63 bis 2,57]; p=0,51).

Aber die Inzidenz einer BPD bei Überlebenden war in der MIST-Gruppe geringer (81/217 [37,3%] gegenüber 102/225 [45,3%] in der Kontrollgruppe; RD -7,8% [95%-KI -14,9% bis -0,7%]; RR, 0,83 [95%-KI 0,70 bis 0,98]; p=0,03).

Schwerwiegende unerwünschte Ereignisse traten bei 10,3% der Säuglinge in der MIST-Gruppe und bei 11,1% in der Kontrollgruppe auf.

Bei Frühgeborenen mit Atemnotsyndrom, die mit CPAP unterstützt wurden, führte die minimal-invasive Surfactant-Therapie im Vergleich zur Scheinbehandlung nicht zu einer signifikanten Verringerung der Inzidenz des zusammengesetzten Endpunkts aus Tod oder bronchopulmonaler Dysplasie (…)“, fassen die Autoren zusammen. „Angesichts der statistischen Unsicherheit (…) kann ein klinisch relevanter Effekt jedoch nicht ausgeschlossen werden.“

Methodische Schwächen der Studie

„Die Ergebnisse der Studie von Dargaville und Kollegen müssen sorgfältig interpretiert werden“, schreibt Dr. Tetsuya Isayama in einem begleitenden Editorial [2]. Er forscht am National Center for Child Health and Development, Tokyo. Obwohl MIST im Vergleich zur Kontrollgruppe zu weniger Ereignissen wie BPD geführt habe, sei unklar, ob sich die Intervention die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen des primären Endpunkts verringert habe.

Isayama: „Der Befund, dass kein signifikanter Unterschied beim primären zusammengesetzten Endpunkt festgestellt wurde, könnte auf eine zu geringe Teststärke zurückzuführen sein, da die Studie vorzeitig beendet wurde.“ Möglich sei aber auch, dass MIST das BPD-Risiko verringert, jedoch die Mortalität erhöht habe. Zur Bewertung sei eine größere Stichprobe erforderlich.

Ein weiteres Manko der Studie sei, dass Details zur Frage fehlten, welche Notfallmaßnahmen alternativ zum Einsatz gekommen seien, beispielsweise die INSURE-Technik (Intubate-Surfactant-Extubate), so der Editorialist. Säuglinge werden zur Verabreichung von Surfactant intubiert und nach einer kurzen Beatmungszeit sofort extubiert. INSURE sei laut früher veröffentlichten Netzwerkanalysen im Vergleich zu einer längeren mechanischen Beatmung mit einer geringeren Mortalität assoziiert, gibt Isayama zu bedenken.

„Ein weiterer Vorbehalt ist, dass die Population der Studie selektiert worden ist“, schreibt Isayama. Im Rahmen der Studie wurden ursprünglich 5.187 Säuglinge zwischen der 25. und 28. Gestationswoche untersucht. Allerdings kamen nur 1.192 Säuglinge (23%) für die Studie in Frage, von denen 485 Säuglinge aufgenommen und analysiert wurden.

Andere potenzielle Probanden wurden entweder kurz nach der Geburt intubiert, bevor sie mit CPAP stabilisiert wurden (2.369 Säuglinge, 46%). Oder sie benötigten weniger Atemunterstützung als in den Einschlusskriterien definiert (1.577 Säuglinge, 30%).

 

Kommentar

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