Schluss mit fiktivem Zusatznutzen? AMNOG-Report legt nahe, dass Preisbildung bei teuren Orphan Drugs nachreguliert werden muss

Christian Beneker

Interessenkonflikte

26. Januar 2022

„Das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) entwickeln wir weiter.“ So steht es im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und der FDP (Medscape berichtete). „Wir stärken die Möglichkeiten der Krankenkassen zur Begrenzung der Arzneimittelpreise.“

Das dürfte Andreas Storm, der Vorstand der Deutschen Angestellten Krankenasse (DAK), gerne gehört haben. Denn die Arzneimittelpreise vor allem für Orphan Drugs sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Das geht aus dem kürzlich veröffentlichten AMNOG-Report 2022 der DAK hervor [1].

Das AMNOG-Verfahren umfasst zum einen die Nutzenbewertung jedes neuen Medikaments, das auf den deutschen Markt kommt. Diese Nutzenbewertung wird vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) vorgenommen. Zum Verfahren gehört auch die Preisverhandlung um den Erstattungsbetrag für die geprüften Medikamente. Die Verhandlung wird von den Herstellern und dem GKV-Spitzenverband geführt.

Wurde bei einem neuen Medikament kein Zusatznutzen im Vergleich zu bereits vorhandenen Arzneimitteln gefunden, wird der Preis gedeckelt. Das Verfahren greift aber erst nach einem Jahr nach Markteintritt, in dem die Hersteller die Preise selbst festlegen durften.

AMNOG-Prozess ist fair und transparent

Seit 2011 hat der G-BA insgesamt 259 neue Wirkstoffe auf einen Zusatznutze hin geprüft, bei 57% der Wirkstoffe hat der G-BA einen mehr oder weniger großen Zusatznutzen festgestellt, so der AMNOG-Report 2022. Die Kosten pro Patient und Jahr sind bei diesen neuen Medikamenten im Durchschnitt von 40.000 Euro auf 150.000 Euro gestiegen. Das bedeute einen neuen Höchststand, hieß es.

 
Trotz der nach wie vor sehr hohen Markteintrittspreise hat sich das AMNOG-Verfahren bewährt und als lernendes und flexibles System gezeigt. Andreas Storm
 

Vergleicht man aber die durch die Hersteller aufgerufenen Kosten mit den Beträgen, die nach der Nutzenbewertung verhandelt wurden, ergibt sich über den gesamten Zeitraum seit 2011 hinweg eine Einsparung allein für die gesetzlichen Krankenkassen in Höhe von mehr als 9 Milliarden Euro, so der Report. Damit sei das Einsparziel erreicht, hieß es bei der DAK.

„Trotz der nach wie vor sehr hohen Markteintrittspreise hat sich das AMNOG-Verfahren bewährt und als lernendes und flexibles System gezeigt“, erklärt Storm. Das Verfahren sei wissenschaftlich, transparent und fair. Angesichts der steigenden Kosten müsse in Zukunft gleichwohl nicht nur über die Wirksamkeit der neuen Wirkstoffe diskutiert werden, sondern bei besonders teuren Medikamenten auch über die Kosten. „Das ist die Herausforderung der Zukunft“, sagt Storm.

Herausforderungen durch Orphan Drugs

Bei den Orphan Drugs liegen die Dinge offenbar anders. Orphan Drugs sind Medikamente für Patientinnen und Patienten mit Erkrankungen, die nicht öfter als bei 5 von 100.000 Menschen vorkommen. Die Jahrestherapiekosten gehen vereinzelt in die Millionen.

Der G-BA konnte bei rund 2 Dritteln aller Orphan Drugs keinen Zusatznutzen feststellen. Der Anteil von Orphan Drugs mit nicht quantifizierbarem Zusatznutzen lag in den Jahren 2016 bis 2020 bei 78%, erklärte Prof. Dr. Wolfgang Greiner, Gesundheitsökonom an der Universität Bielefeld, auf einer Veranstaltung zum AMNOG-Report 2022. In den Jahren 2011 bis 2015 lag dieser Anteil noch bei 46%.

Zugleich stiegen die Preise. Tatsächlich haben sich die Kosten für Orphan Drugs seit 2011 verfünffacht, und zwar von Jahrestherapiekosten in Höhe von 97.000 Euro auf 540.000 Euro im Jahr, obwohl kein Zusatznutzen festgestellt wurde.

Erst nach 50 Millionen Euro Jahresumsatz wird geprüft

Dies liegt daran, dass erst dann über Zusatznutzen und Preise von Orphan Drugs verhandelt wird, wenn der Umsatz des neuen Medikaments die Schwelle von 50 Millionen Euro pro Jahr überschritten hat. Bis dahin nimmt das AMNOG einen so genannten „fiktiven Zusatznutzen“ an. Diese Regelung sollte die Hersteller dazu bewegen, mehr Arzneimittel für seltene Erkrankungen zu entwickeln.

 
Auch Arzneimittel gegen seltene Leiden sollten bei Markteintritt eine reguläre frühe Nutzenbewertung gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie durchlaufen. Jürgen Windeler
 

Bis die Schwelle von 50 Millionen erreicht ist, dauert es allerdings bis zu 3 Jahre. Zudem erreichen viele Orphan Drugs diese Schwelle gar nicht, was zusätzlich ausgabensteigernd wirkt, weil diese Medikamente nie in die Nutzenbewertung kommen.

Das Privileg des fiktiven Zusatznutzens sei nicht mehr gerechtfertigt, schlussfolgert Jürgen Windeler, Leiter des IQWiG. „Auch Arzneimittel gegen seltene Leiden sollten bei Markteintritt eine reguläre frühe Nutzenbewertung gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie durchlaufen“, so Windeler.

„Für Orphan Drugs mit einem echten Fortschritt für die Patientenversorgung mögen die hohen Preise berechtigt sein – für jene ohne Zusatznutzen aber nicht. Die sorgfältige Differenzierung ist also aus mehreren Gründen sinnvoll und überfällig.“

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....