Wie ärgerlich, schon wieder etwas Wichtiges vergessen! Ob das erste Anzeichen von Alzheimer sind? Diese Sorge treibt viele Menschen in Gedächtnis-Sprechstunden, wo sie von den Ärzten eine Prognose erwarten: Demenz oder nicht Demenz?
Eine schwierige Frage – die sich jedoch mit Künstlicher Intelligenz recht genau beantworten lässt. Wenige leicht zugängliche Messwerte genügen, dann liefern Algorithmen eine Aussage für die nächsten 2 Jahre und decken zudem Fehldiagnosen auf, wie britische Forscher berichten [1].
„Die Studie ist sorgfältig gemacht – zu einem interessanten Ansatz und abgesichert durch die enorme Zahl von Teilnehmern. Die mit maschinellem Lernen erzeugten Prognosen beeindrucken durch ihre Treffsicherheit, ihre Spezifität und Sensitivität“, stellt Prof. Dr. Matthias Maschke fest, den Medscape um eine Einschätzung gebeten hatte.
Maschke leitet die Abteilung für Neurologie und damit auch die Gedächtnis-Sprechstunde am Brüderkrankenhaus Trier. „Memory-Kliniken werden dieses Verfahren sicher nach und nach übernehmen. Bis es allerdings zur Routine gehört, vergehen vermutlich noch ein paar Jahre. Momentan ist die Anwendung weitgehend auf die Forschung beschränkt.“
Die Autoren sagen eine Revolutionierung voraus
Dr. Charlotte James von der Universität Exeter und ihre Kollegen sind vom Potenzial überzeugt: „Künstliche Intelligenz verbessert die Früherkennung und revolutioniert den Diagnoseprozess für Menschen, die wegen ihrer geistigen Leistungsfähigkeit beunruhigt sind.“
Als Vorteil streichen sie heraus, dass Ärzte eine solide Basis für ihr weiteres Vorgehen bekommen: ob sie die Ratsuchenden zu einem Folgetermin einladen, ihnen eine Änderung des Lebensstils empfehlen oder eine Therapie verordnen sollten. Das eröffne die Chance, den Beginn einer Demenz hinauszuzögern oder die Symptome abzumildern.
Die Patienten ihrerseits wüssten, was auf zukommt, und könnten sich vorbereiten, zum Beispiel frühzeitig Unterstützung organisieren. Oder aber sie gehen erleichtert nach Hause, nachdem ihnen eine geringe Gefahr signalisiert wurde.
Ohne Antidementiva fehlt die Hoffnung
Maschke weist allerdings darauf hin, dass mit der Entwicklung solch präziser Methoden sozusagen der zweite Schritt vor dem ersten getan wird: „Das Dilemma besteht ja darin, dass mit einer Prognose vorläufig wenig gewonnen ist, weil noch keine spezifischen Alzheimer-Medikamente existieren.“
In den USA habe die FDA zwar im Juni 2021 den β-Amyloid-Antikörper Aducanumab für diese Indikation zugelassen. Bei dem beschleunigten Verfahren stützte sich die Behörde jedoch hauptsächlich auf PET-Bilder, die einen Rückgang der Plaques dokumentierten. Der kognitive Abbau dagegen hatte sich in den Studien kaum verlangsamt, weshalb die europäische EMA die Zulassung im Dezember 2021 verweigerte ( Medscape berichtete ).
„Ich denke, Aducanamab hat bei uns keine Chance, jedoch ist absehbar, dass ähnliche, aber wirksamere Arzneimittel folgen, und dann macht Künstliche Intelligenz in der Diagnostik durchaus Sinn“, erklärt der Neurologe.
Zum Abschied bleiben bloß gute Ratschläge
So lange müsse man sich mit allgemeinen Maßnahmen behelfen, etwa kardiovaskuläre Risikofaktoren zurückdrängen, die ja auch im Gehirn degenerative Prozesse antreiben. „Wir raten den Patienten zur Gewichtsabnahme, zu regelmäßiger Bewegung und mediterraner Ernährung, außerdem sollten sie ihre kognitiven Fertigkeiten trainieren, viel lesen, Kontakte zu Freunden und Bekannten pflegen“, umreißt Maschke das bisher Machbare.
Verlässlich vorherzusagen, ob sich eine Leistungsschwäche des Gehirns anbahnt oder nicht, bedeute für Ärzte eine Herausforderung, erläutern James und ihre Kollegen. Oft scheine ihnen eine leichte Beeinträchtigung verdächtig, und sie bestellen die Patienten zu einem späteren Termin erneut. Das jedoch erweise sich nicht selten als überflüssig, denn meist sei selbst nach 10 Jahren keine Verschlimmerung eingetreten.
Algorithmen sind Strategien zur Problemlösung
Als Entscheidungshilfe prüfte das Team aus Neurologen und Informatikern deshalb das maschinelle Lernen, das Wissen aus Erfahrung filtert: Algorithmen werden programmiert, in großen und komplexen Datenmengen Muster zu entdecken, und das von Rechenlauf zu Rechenlauf effektiver.
Eine Variante heißt XGB, kurz für eXtreme Gradient Boosting, ein sich selbst verstärkender Baumalgorithmus. Die Kernidee: Schwache Modelle werden über viele Einzelschritte zu einem starken Modell kombiniert. Indem jeweils die beste Lösung weiterverwendet wird, gelingt es letztlich, Fehler zu minimieren. Außer XGB nutzten die Forscher 3 weitere Algorithmen: logistische Regression (LR), Support Vector Machine (SVM) und Random Forest (RF).
Die herkömmlichen Skalen sind relativ ungenau und nehmen nur bestimmte Zeitabschnitte und Bevölkerungsgruppen in den Blick. So prognostiziert CAIDE (Cardiovascular Risk Factors, Aging, and Incidence of Dementia) das Risiko in 20 Jahren für Menschen mittleren Alters, und zwar auf Grundlage von Lebensjahren, Geschlecht, BMI, Blutdruck, Cholesterinwerten, sportlicher Aktivität und Bildungsniveau.
Diabetes, Depressionen, Schlaganfall begünstigen Demenz
Der BDSI (Brief Dementia Screening Indicator) schätzt die nächsten 6 Jahre ab, eignet sich für das Screening der 65- bis 79-Jährigen und berücksichtigt neben einigen CAIDE-Faktoren, ob sie an Diabetes und Depressionen erkrankt sind und schon einen Schlaganfall hatten.
Die Forscher wollten daher in ihrer prospektiven Studie ein Tool für die nahe Zukunft finden, das zudem nur leicht verfügbare Informationen verlangt – im Gegensatz zu alternativen Ansätzen maschinellen Lernens, die aufwendige Parameter nutzen, wie Bildgebung, Gentests und Liquor-Biomarker.
Teilnehmer waren 15.300 Menschen im Durchschnittsalter von 72 Jahren, die zwischen 2005 bis 2015 eine von 30 Gedächtniskliniken in einem US-Netzwerk aufgesucht hatten. Ihre Beschwerden: Ausfälle bei der Erinnerung oder sonstigen Hirnfunktionen.
Subjektive Gedächtnislücken - ein schlechter Indikator
Jedoch waren sie anfangs nicht dement, wie ein Datensatz belegte, darunter klinische Merkmale, Vorerkrankungen, Familienanamnese, funktioneller Status sowie Testresultate zu Demenz, aber auch zu Depressionen, Parkinson und psychiatrische Störungen. Quelle war das Uniform Data Set, in das Alzheimer-Zentren ihre Ergebnisse einspeisen.
„In Deutschland erfolgt die Abklärung ähnlich wie in den USA. An erster Stelle stehen hier üblicherweise der Mini Mental-Status-Test, der Uhrentest nach Shulman und DemTec“, berichtet Maschke. Ein entscheidendes Kriterium sei, ob sich Störungen ergeben, die in den Alltag eingreifen. Falls ja, werden die Patienten anschließend mit einer neuropsychologischen Testbatterie untersucht.
Die Trefferquote lag bei fast 100%
In der Studie erkrankte jeder 10. Teilnehmer innerhalb von 2 Jahren an Demenz, 82% an Alzheimer, die übrigen an Lewy-Körperchen-, vaskulärer oder frontotemporaler Demenz. Alle 4 Algorithmen schnitten in ihrer Vorhersagekraft ähnlich gut ab, Spitzenreiter war XGB – es fand 92% der neuen Fälle. Die Spezifität lag bei 97%, Sensitivität bei 45%.
Damit übertraf das maschinelle Lernen die konventionellen Methoden: Jeweils auf 2 Jahre umgerechnet, erreichte BDSI eine Trefferquote von 83%, CAIDE nur 76%. Zudem besaßen die Algorithmen eine gewisse Fähigkeit, den Subtyp der künftigen Demenz zu spezifizieren: So lagen sie bei rund der Hälfte der Alzheimer-Patienten richtig.
Die Modelle zeigten noch eine weitere Qualität: Sie spürten auch einen Großteil (80%) der Fehlprognosen auf. Insgesamt hatten die traditionellen Methoden einem Anteil von 8% der Patienten eine Erkrankung angekündigt, ohne dass diese gravierende kognitive Einbußen erlitten. „Dadurch werden sie von der unnötigen Last befreit, die ihnen solche Trugschlüsse aufbürden“, betonen die Wissenschaftler.
Mit nur 6 Schlüsselvariablen ist das Ziel erreicht
Ein Anliegen war ihnen außerdem, die Algorithmen für die klinische Routine zu optimieren: Die hohe Genauigkeit sollte mit möglichst wenigen Variablen erzielt werden. Das Reservoir enthielt gut 250 verschiedene Messwerte – doch welche und wie viele sind mindestens nötig?
Das Ergebnis nach vielen Rechenoperationen: 6 Schlüsselvariablen reichen aus, und zwar das Ausmaß der klinischen Verschlechterung, der Grad der Unabhängigkeit, 3 Komponenten der Clinical Dementia Rating-Skala – Orientierung, Gedächtnis, Haushaltsführung plus Freizeitaktivitäten – sowie die für den Trail Making Test Teil B erforderliche Zeit (Verbinden von Zahlen und Buchstaben abwechselnd und in ihrer Reihenfolge).
In einer Mitteilung der Uni Exeter plädieren James und ihre Kollegen nun dafür, maschinelles Lernen standardmäßig in die Untersuchungen bei Demenzverdacht einzubetten. Denn es könne das Rätselraten weitgehend aus Memory-Kliniken verbannen und den Diagnosepfad erheblich sicherer gestalten.
Credits:
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Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: „Revolution in der Früherkennung“: Künstliche Intelligenz kann Demenz vorhersagen – neues Tool für Gedächtnis-Sprechstunden - Medscape - 26. Jan 2022.
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