Vor 100 Jahren verlor Diabetes seinen tödlichen Schrecken: Am 23. Januar 1922 bekam der 14-jährige Leonard Thompson als erster Patient erfolgreich Insulin gespritzt. Der junge Kanadier war im Herbst 1919 an Diabetes erkrankt. Sein Zustand hatte sich bis Januar 1922 derart verschlechtert, dass er nur noch 29 kg wog. Seine erfolgreiche Behandlung stellte den Durchbruch in der Diabetes-Therapie dar.
Zuvor hatten die beiden kanadischen Mediziner und Forscher Frederick Banting und Charles Best – die als Entdecker des Insulins gelten – monatelang Versuche an Hunden durchgeführt. Nach den ersten Erfolgen isolierte der Biochemiker James Collip Insulin aus den Bauchspeicheldrüsen von Schlachttieren. Thompson erhielt als erster Patient diesen Extrakt – und die Therapie schlug an.
Bevor Insulin zur Diabetes-Therapie zur Verfügung stand, lag die durchschnittliche Überlebenszeit nach Diagnosestellung bei circa 9 Monaten. Im Februar 1922 wurden weitere 6 Patienten am Toronto General Hospital mit Insulin behandelt – alle mit guten Ergebnissen. Der neue Extrakt wurden im Mai1922 beim Kongress der Association of American Physicians in Washington erstmals einer breiten medizinischen Öffentlichkeit präsentiert.
„Wenn wir bedenken, dass bis zu diesem Zeitpunkt die Diagnose eines Typ-1-Diabetes gleichbedeutend mit dem sicheren Tod war, kann man ermessen, welche Zäsur die Entdeckung und Etablierung der Insulintherapie in der Medizingeschichte darstellt“, sagte Prof. Dr. Andreas Neu, Kommissarischer Ärztlicher Direktor an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Tübingen auf der Online-Pressekonferenz „100 Jahre Insulintherapie“ der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und der diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe [1].
1924 kam die erste Insulinspritze auf den Markt, 1934 das erste Verzögerungsinsulin. Die in den 1950er-Jahren übliche Urinzucker-Teststreifen wurden in den 1960er-Jahren durch Blutzucker-Messstreifen ergänzt. 1983 wurden erstmals tierische Insuline durch Humaninsuline ersetzt, und im gleichen Jahr wurde die erste Insulinpumpe vorgestellt. „Heute nutzen mehr als 60% aller Kinder und Jugendlichen eine Insulinpumpe, im Kleinkindesalter sind es mehr als 90%“, berichtet Neu, Präsident der DDG.
Mehr moderne Technologien zur Glukosebestimmung
Der Einsatz moderner Technologien zur Glukosebestimmung nimmt rasant zu. „Immer mehr Kinder und Jugendliche verwenden einen Sensor, also eine Form der kontinuierlichen Glukosebestimmung. Diese Systeme lassen sich koppeln mit den Insulinpumpen, sorgen dann für eine automatische Abschaltung der Insulinzufuhr bei zu niedrigen Glukosewerten oder für eine zusätzliche Insulingabe bei steigenden Glukosewerten“, berichtete Neu.
„Diese sogenannten ‚Closed-Loop‘-Systeme sind nahe an dem, was die Glukoseregulation bei Gesunden ausmacht. Neben einer verbesserten Stoffwechselqualität und damit verbesserten Langzeitprognosen tragen diese Systeme erheblich dazu bei, den Alltag von Betroffenen zu erleichtern“, sagte Neu.
Auch wenn sich vieles verbessert habe: „Diabetes bedeutet auch heute noch: mehrfach täglich Glukosemessungen blutig oder mit Sensor, Insulingaben zu jeder Mahlzeit, Abschätzen der Kohlenhydratmengen beim Essen, Unterzuckerprophylaxe beim Sport, Kontrollen in der Nacht und die Notwendigkeit, alle Hilfsmittel und Insulin jederzeit parat zu haben“, so Neu.
Hinzu kommen große regionale Unterschiede hinsichtlich der Versorgung und eine unzureichende Inklusion in Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen, erinnerte Neu.
Gebraucht werde deshalb eine fachkompetente und zugewandte Betreuung der Patienten mit Diabetes Typ 1: „Multiprofessionelle spezialisierte Teams sollten flächendeckend an jeder Kinderklinik etabliert sein und sowohl eine adäquate Erstversorgung sichern als auch eine kompetente Langzeitbegleitung gewährleisten“, schloss Neu.
Die ‚eine‘ Insulintherapie gibt es nicht
In Deutschland sind etwa 341.000 Erwachsene sowie circa 32.000 Kinder und Jugendliche, an Diabetes mellitus Typ 1 erkrankt. Sie und auch ein Teil der 8,5 Millionen Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 hierzulande werden täglich, häufig auch lebenslang, mit Insulin behandelt.
Bei der Intensivierten konventionellen Insulintherapie (ICT) – der Standard-Therapie für Typ-1- und Typ-2-Diabetes – wird morgens und abends oder nur einmal täglich der basale Insulinbedarf mit einer Injektion von lang wirksamem Insulin gedeckt. Zusätzlich wird vor den Mahlzeiten ein kurz wirksames Insulin injiziert.
Bei der Basal unterstützten Insulintherapie (BOT) spritzen sich Patienten ein lang wirkendes Insulin, bei der Supplementären Insulintherapie (SIT) wird eine kleine Menge kurz wirkendes Insulin zu den Hauptmahlzeiten gespritzt, und bei der Konventionellen Insulintherapie (CT) wird zwei- bis dreimal täglich zu bestimmten Zeiten eine genau festgelegte Menge Insulin gespritzt.
Bei der Insulinpumpentherapie wird rund um die Uhr eine geringe Menge Insulin abgegeben, das zu den Mahlzeiten zusätzlich benötigte Insulin wird per Knopfdruck abgerufen. Es gibt auch schlauchlose Patch-Pumpen, die direkt auf die Haut geklebt werden.
Bei AID-Systemen (Automatische Insulin-Dosierung) wird die kontinuierliche Glukosemessung mit einer Insulinpumpe kombiniert. Das geschlossene System führt dem Körper abhängig von der gemessenen Glukose Insulin zu und ahmt dadurch die natürliche Funktion der Bauchspeicheldrüse bei stoffwechselgesunden Menschen nach. AID-Systeme werden vor allem bei Typ-1-Diabetes eingesetzt.
Auch wenn es die Insulintherapie seit 100 Jahren gibt – von `einer´ Insulintherapie könne man nicht sprechen: „Es gibt viele unterschiedliche Insulintherapien, die individuell auf den Patienten angepasst sein sollten“, erklärte Prof. Dr. Andreas Fritsche, Leiter der Abteilung Prävention und Therapie des Typ-2-Diabetes am Institut für Diabetesforschung und Metabolische Erkrankungen am Universitätsklinikum Tübingen und Vizepräsident der DDG.
Diabetes Typ 1 und Typ 2: Der entscheidende Unterschied
„Für den Patienten mit Diabetes Typ 1, der kein eigenes Insulin produziert, wird mit der Insulintherapie versucht, die natürliche Insulinausschüttung möglichst gut nachzuahmen. Die Insulingabe ist für diese Menschen lebenslang lebenswichtig, sie sind insulinpflichtig, das Insulin darf nie abgesetzt werden! Unterbleibt die Insulingabe, sterben die Patienten“, betonte Fritzsche.
Bei Patienten mit Typ-2-Diabetes liegt hingegen keine Insulinpflicht vor. „Der Patient kann sehr wohl eine Insulintherapie benötigen, abhängig von der Art des Typ-2-Diabetes und dem Fortschritt der Erkrankung“, so Fritsche. Das Insulin könne aber je nach Situation zumindest zeitweise wieder abgesetzt werden.
Fritsche berichtete, dass bei manchen Diabetes-Patienten vor Operationen oder im Nüchtern-Zustand die Insulintherapie zeitweise abgesetzt werde. „Bei Typ-2-Diabetes ist das eine berechtigte Strategie, um Unterzuckerungen zu vermeiden, geschieht das aber bei einem älteren Typ-1-Diabetes-Patienten, den man im Krankenhaus fälschlicherweise für einen Typ-2-Diabetes hält, ist das akut lebensgefährlich“, warnte Fritzsche.
Deshalb sei es extrem wichtig, dass es weiterhin in jedem Krankenhaus Ärzte und Pflegepersonal gibt, die einen Typ-1- von einem Typ-2-Diabetes unterscheiden können: Ersterer ist insulinpflichtig, letzterer höchstens insulintherapiert.
Insulintherapie der Zukunft wird individueller und präziser
Der Typ-2-Diabetes ist eine höchst heterogene Erkrankung, man kennt heute unterschiedliche Subtypen. Manche produzieren zu viel Insulin und sind insulinresistent, manche produzieren viel zu wenig Insulin, hier herrscht dann ein schwerer Insulinmangel.
Ferner nimmt mit zunehmender Diabetesdauer die körpereigene Insulinproduktion ab. Manche Typ-2-Diabetes-Patienten sollten also nicht unbedingt eine Insulintherapie erhalten, während andere dringend Insulin brauchen.
Deshalb wird in Zukunft wahrscheinlich die Messung der endogenen Insulinsekretion mit C-Peptid und Glukosebestimmung an Bedeutung gewinnen bei der Entscheidung, ob ein Patient mit Typ-2-Diabetes eine Insulintherapie erhält. Je stärker der Insulinmangel, desto mehr ähnelt dann die Typ-2-Insulintherapie der eines Typ-1-Diabetes-Patienten, also mit Gabe von Basalinsulin und kurzwirksamem Bolusinsulin.
Fritsches Einschätzung nach wird die Insulintherapie individueller und präziser, sowohl beim Typ-1- als auch beim Typ-2-Diabetes. Sie wird vielleicht bequemer, ultralang wirkende Basalinsuline müssen dann nur noch einmal wöchentlich gespritzt werden.
Bei den Millionen von insulinbehandelten Patienten in Deutschland dürfen die Diabetestypen, die Therapieformen und die Insulinpräparationen nicht verwechselt werden – dies kann fatale Folgen für den betroffenen Patienten haben.
Die Entscheidung, welche Therapieform im individuellen Fall am besten geeignet ist, treffen die Diabetes-Teams in enger Absprache mit den Patienten beziehungsweise ihren Angehörigen je nach Diabetes-Typ, Lebenssituation und weiteren Erkrankungen. Gerade in der Diabetologie müsse die sprechende Medizin deshalb eine größere Rolle einnehmen, erinnerte Fritsche.
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Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: 100 Jahre Insulin: Haben Ihre Patienten schon die optimale Therapie? - Medscape - 24. Jan 2022.
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