Neues Experten-Papier zu Autismus: Gute Förderung mildert deutlich Symptome, doch oft mangelt es daran

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

13. Januar 2022

Autismus ist der Öffentlichkeit vor allem von Ausnahmeerscheinungen bekannt wie der hochintelligenten Klimaaktivistin Greta Thunberg, die ihr Asperger-Syndrom eine „Superkraft“ nennt. Oder vom „Rain Man“ des Films, der durch einmaliges Lesen das Telefonbuch einer Großstadt auswendig lernt.

Doch spiegeln sie die Realität der weltweit 78 Millionen Menschen mit Autismus kaum wider: die Defizite in Diagnostik und Therapie, die geringe Unterstützung, die schlechte Lebensqualität. Eine internationale Kommission präsentiert nun in The Lancet auf mehr als 50 Seiten Vorschläge zur Abhilfe, die in 3 Begleitartikeln nachdrücklich begrüßt werden [1,2,3,4].

 
Ein deutliches Signal ist allein schon dadurch gesetzt, dass jetzt ein Plan für die nächsten 5 Jahre existiert. Prof. Dr. Christine Freitag
 

Die Ziele sind hochgesteckt: Aufbau einer Infrastruktur für Diagnostik, Therapie und Betreuung in jedem Land. Doch wie stehen die Chancen für die praktische Umsetzung?

„Ein deutliches Signal ist allein schon dadurch gesetzt, dass jetzt ein Plan für die nächsten 5 Jahre existiert. Und dass dieser Plan zudem in einem so hochrangigen Journal und derart umfangreich publiziert wurde. Das ist ein erster Schritt, den man als Anstoß hin zu Veränderungen nicht unterschätzen darf“, sagt Prof. Dr. Christine Freitag im Gespräch mit Medscape.

Renommee des Lancet könnte viel ausrichten

Die Psychiaterin und Theologin, die als Mitglied der Kommission an dem Appell mitgearbeitet hat, ist Direktorin der Frankfurter Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. „The Lancet genießt große Beachtung, vor allem in englischsprachigen Ländern, darunter Indien oder Südafrika. Und er hat einen enormen Einfluss auf die WHO, die wiederum entscheidende Impulse fürs Gesundheitswesen setzt“, sagt sie.

Die COVID-19-Pandemie liefere ein gutes Vorbild, schreiben die Autoren um Prof. Dr. Catherine Lord von der University of California inLos Angeles [1]. Denn in dieser Ausnahmezeit bezeuge sie, wie energisch sich ein gesundheitlicher Notfall bekämpfen lässt: Rasch und global kommen Initiativen in Gang, um das Virus einzudämmen oder Klinikplätze bereitzustellen, während gleichzeitig die Forschung zu Impfstoffen, Medikamenten und den unterschiedlichsten Aspekten der Infektion auf Hochtouren läuft.

Ähnliches wünschen sich die Autoren für Menschen mit Autismus: konkrete Maßnahmen für bessere Lebens- und Entwicklungsbedingungen und weitere Studien.

Das Ideal: Personalisierte und lebenslange Therapien

Das erfordere eine Koordinierung zwischen Regierungen, Sozial- und Gesundheitsdiensten, Bildungs- und Finanzinstitutionen, und zwar unter Einbeziehung der Patienten und ihrer Familien. „Autismus ist ein unglaublich heterogenes Leiden, das nicht nur von Mensch zu Mensch stark variiert, sondern auch je nach Lebensphase. Darauf sollte die Behandlung abgestimmt sein“, mahnen die Verfasser.

 
In den letzten 10 Jahren hat sich die Sichtweise auf Autismus stark gewandelt. Prof. Dr. Christine Freitag
 

Diese Forderung basiere auf neueren Erkenntnissen, erläutert Expertin Freitag, die auch das Autismus Therapie- und Forschungszentrum an der Goethe-Universität Frankfurt leitet und im Mai 2021 federführend die erste interdisziplinäre S3-Leitlinie zur Therapie veröffentlicht hat. „In den letzten 10 Jahren hat sich die Sichtweise auf Autismus stark gewandelt. Studien haben nämlich ergeben, dass der Schweregrad zum Teil keineswegs unabänderlich ist, sondern durch Verhaltenstherapie und Förderung der sozialen und kommunikativen Fähigkeiten deutlich gemildert werden kann.“

Früherkennung und -förderung sind entscheidend

Diese Methoden stoßen besonders im Kleinkindalter die Neuroplastizität an und ermöglichen so eine höhere Intelligenz, flüssigeres Sprechen und größere Selbstständigkeit. „Wir beobachten manchmal erstaunliche Erfolgsgeschichten“, berichtet Freitag. „Etwa ein Zehntel der Kinder entwickelt sich so gut, dass sie schließlich aus den Diagnose-Kriterien für Autismus herausfallen.“

 
Wir beobachten manchmal erstaunliche Erfolgsgeschichten. Prof. Dr. Christine Freitag
 

Umso unverständlicher erscheint es, dass Verhaltenstherapeuten autistische Kinder eher selten behandeln. Dafür gibt es zahlreiche Gründe: die teilweise unklare Finanzierung der therapeutischen Leistungen über die Eingliederungshilfe oder die Krankenkassen, fehlende Qualitätsanforderungen an die Therapeuten, zu geringe Kenntnisse über Entwicklungsdiagnostik und Förderung.

Masterstudium „Autismus“ in Frankfurt geplant

„Selbst in Deutschland mit seinem effizienten Gesundheits- und Sozialsystem besteht also ein dringender Bedarf an Reformen“, resümiert Freitag. Sie und ihr Team haben bereits Pläne, um Versäumtes nachzuholen: „Wir wollen in Frankfurt bis zum Herbst 2023 ein Masterstudium ,Autismus‘ aufbauen – als berufsbegleitende Weiterbildung für alle, die schon in diesem Bereich tätig sind.“

Generell sollte nach Auffassung der Lancet-Kommission das Denkmodell der Neurodiversität maßgeblich sein. Denn es stärke den Respekt für Menschen, die nicht zum Mainstream passen. Und zwar dadurch, dass Abweichungen wie Autismus oder auch ADHS nicht als pathologisch verstanden werden, vielmehr als natürliche Spielarten des Geistes.

 
Selbst in Deutschland mit seinem effizienten Gesundheits- und Sozialsystem besteht also ein dringender Bedarf an Reformen. Prof. Dr. Christine Freitag
 

„Viele ordnen sich lieber in eine neurodiverse Gemeinschaft ein, statt sich einer psychiatrischen Klassifikation mit ihrer Liste von Defiziten zu unterwerfen“, so die Erfahrung der Autoren.

Ein in den USA recht prominenter Fürsprecher für die Rechte autistischer Menschen ist der Filmregisseur Alex Plank, dem der Lancet einen eigenen Beitrag gewidmet hat [4]. Darin erzählt er, wie er als Schüler gemobbt und ausgelacht wurde, keine Freunde fand und sich schämte. Die Diagnose „Asperger-Syndrom“ hatten seine Eltern ihm verheimlicht, erst durch Zufall entdeckt er in einer Schublade das Gutachten des Arztes.

 
Viele ordnen sich lieber in eine neurodiverse Gemeinschaft ein, statt sich einer psychiatrischen Klassifikation mit ihrer Liste von Defiziten zu unterwerfen. Prof. Dr. Catherine Lord und Kollegen
 

Plank stellt fest: „Unglücklicherweise existiert das Stigma der Diagnose also immer noch.“ Mit 17 Jahren findet er einen Ausweg, indem er die Online-Community „Wrong Planet“ gründet.

Hoch qualifiziert, aber arbeitslos

Die Facetten des Autismus in unterschiedlichen Kontinenten illustrieren die Autoren um Lord mit Personenporträts:

Sofía aus Argentinien hat in Kunstgeschichte der Renaissance promoviert und spricht fließend 3 Sprachen. Ihr machen Ängste, Unruhe, Konzentrationsschwäche und Überempfindlichkeit gegen Licht und Geräusche zu schaffen, bei 3 Arbeitsstellen wird sie entlassen, ohne dass sie den Grund versteht. Erst der Arzt, den sie wegen Verhaltensauffälligkeiten ihres Sohnes konsultiert, erkennt nicht nur bei dem Kind, sondern auch bei ihr den Autismus – da ist sie 30 Jahre alt.

Wie Lord und ihre Kollegen erläutern, sind weibliches Geschlecht einerseits und gute sprachliche und kognitive Fähigkeiten andererseits eher mit einer späten Diagnose assoziiert, vor allem in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen.

Verglichen mit Männern fanden Studien für Frauen und Mädchen außerdem eine 3- bis 4-mal niedrigere Prävalenz. Das könnte teilweise an Fehleinschätzungen liegen, weil die Symptomatik anders ausgeprägt ist – die Kommunikation zum Beispiel gelingt oft besser. Oder Verhaltensweisen wie repetitive Muster erscheinen weniger befremdlich, etwa weil sie eher mit kulturellen Normen konform gehen.

In Deutschland ist die Situation passabel

Besondere diagnostische Lücken bestehen weiterhin in sozioökonomisch benachteiligten Gruppen, bei ethnischen Minderheiten und in ländlichen Gegenden. „Speziell in Deutschland hat zumindest der diagnostische Standard ein akzeptables Niveau erreicht, allerdings müsste die Früherkennung besser werden, damit die Therapie zeitig beginnen kann“, sagt Freitag.

Das entgegengesetzte Ende des Spektrums verkörpert Adir aus Großbritannien. Seine Intelligenz ist gemindert, er spricht nicht und leidet an Epilepsie. Er wird aggressiv gegen sich und andere, was eine besondere Herausforderung bedeutet, weil er mit seinen 16 Jahren über 1,80 Meter misst und 125 Kilo wiegt. In einer unterstützten Beschäftigung kann er darum nicht länger arbeiten. Seine Mutter ist ebenfalls überfordert, so dass sie eine Unterbringung im Heim erwägt – schweren Herzens, weil sie seinetwegen ihren Beruf aufgegeben hat.

Neue Definition: „tiefgreifender Autismus“

Auf Adir trifft das Konzept des „tiefgreifenden Autismus“ zu, das Lord und ihre Kollegen neu eingeführt haben. Sie wollen es nicht als Diagnose verstanden wissen, sondern als Kennzeichnung: Es soll Mitarbeiter im Gesundheitswesen darauf hinweisen, dieser gefährdeten und unterversorgten Gruppe höchste Priorität einzuräumen.

Denn diese Menschen brauchen rund um die Uhr einen Betreuer, da sie nicht sprechen und nicht für sich selbst eintreten können. Bei der Auswertung dreier Studien haben die Autoren ermittelt, dass dies auf 18% bis 48% der Menschen mit Autismus zutrifft.

Allgemein geht Autismus zwar gehäuft mit einer Intelligenzminderung einher, doch dank Fortschritten in der Therapie ist die Zahl dieser Kinder zumindest in reichen Ländern deutlich zurückgegangen. „Auf den wachsenden Anteil autistischer Menschen mit guten kognitiven Fähigkeiten ist die Aufmerksamkeit der Medien gerichtet“, schreibt die Kommission.

Großes Interesse erregen die „Savants“ mit ihrer Inselbegabung: In einigen Bereichen sind sie kognitiv eingeschränkt, in anderen faszinieren sie durch außergewöhnliche Leistungen – Erinnerung, Sprache, Rechnen, Musik, Kunst.

Keine Chancen für indischen Bauernjungen

    Samir, ein 10-jähriger Bauernjunge aus einem indischen Dorf, steht stellvertretend für ein Kind aus einer armen Region. Da er hinter seinen Altersgenossen zurückbleibt, geht sein Vater mit ihm zu einem traditionellen Arzt. Dessen Behandlung – Naturheilmedizin und ein magisches Armband – kostet viel, bewirkt aber nichts. Auf Anraten einer Lehrerin bringt der Vater Samir schließlich in eine Kinderklinik, wo die Ärzte Autismus diagnostizieren und eine Sprachtherapie empfehlen, doch schon die Busfahrten sind für den Vater unerschwinglich. Ihm ist klar, dass Samir keinen Schulabschluss schafft, trotzdem hofft er, dass der Junge später wenigstens imstande ist, bei der Viehzucht zu helfen.

      In Niedriglohnländern ist die Situation von Menschen mit Autismus besonders schlecht. Vielfach ist dort kein Screening etabliert, viele Angehörigen – vor allem wenn sie weder lesen und schreiben können – wissen nicht, dass Entwicklungsstörungen überhaupt existieren. Oder sie scheitern am begrenzten Zugang zu Gesundheitsdiensten, haben zu wenig Geld oder schrecken aus Angst vor Diskriminierung davor zurück.

      Früher gab man „Kühlschrankmüttern“ die Schuld

      Wie die Autoren berichten, herrschen in Teilen der Welt selbst heute noch ähnliche Vorurteile wie in Europa bis in die 1960er-Jahre hinein: Man hielt autistische Kinder für die Opfer schlechter Erziehung, zumal von „Kühlschrankmüttern“: zu kalt, um Liebe zu spenden. Man drängte die Frauen, eine Psychoanalyse zu machen und ihre Kinder in ein Heim zu geben.

       
      Letztlich bringt uns die Kommission eine Botschaft der Hoffnung. Sie belegt mit Studien, dass viel getan werden kann, um die Lebensumstände autistischer Menschen zu verbessern. Helen Frankish und Richard Horton
       

      Auch heute noch zögern Familien aus Furcht vor üblem Leumund, einen Arzt aufzusuchen, in einigen afrikanischen Kulturen gilt Autismus sogar als Folge von Hexerei, so dass manche Eltern ihre Kinder verstecken.

      So zahlreich die Missstände auch sind, der Lancet-Bericht könnte eine Wende einleiten, davon sind Helen Frankish und Richard Horton, die Verfasser einer der beiden Kommentare überzeugt [3]: „Letztlich bringt uns die Kommission eine Botschaft der Hoffnung. Sie belegt mit Studien, dass viel getan werden kann, um die Lebensumstände autistischer Menschen zu verbessern.“

      Grundzüge der Therapie

      Die Therapiebausteine sollten nach einer Analyse der Stärken und Schwächen individuell kombiniert werden: Förderung von sprachlichen, sozialen und praktischen Fertigkeiten, Unterstützung in Schule und Ausbildung, Schulung der Angehörigen, Strukturierung von Alltag und Freizeit.

      3 Kernbereiche stehen im Fokus:

      • Kommunikation: Sprachentwicklung und Sprechen, pragmatisches Verständnis und non-verbale Kommunikation, wie Gestik, Mimik, Sprechmelodie, Small-Talk

      • Verhalten: sich wiederholende Muster, Handlungsroutinen und motorische Stereotypien wie Schaukeln, Probleme mit Veränderungen, geringe Spontanität und Kreativität

      • Wahrnehmung: Verarbeitung von Sinneseindrücken, Stichwort Reizüberflutung

      Behandlung brauchen außerdem die häufigen komorbiden Störungen wie Phobien, depressive Episoden, Schlaf- und Essprobleme, Wutausbrüche, Verletzungen der eigenen Person und anderer.

      Kommentar

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