Alarmierende Zahlen aus dem IDF-Atlas: Weltweit hat jeder 10. Erwachsene Diabetes – auch Kosten steigen dramatisch

Miriam E. Tucker

Interessenkonflikte

12. Januar 2022

Nach dem neuen Diabetes-Atlas der International Diabetes Federation (IDF) ist derzeit jeder 10. Erwachsene weltweit an Diabetes erkrankt. Im zurückliegenden Jahr entstanden daraus weltweite Gesundheitsausgaben in Höhe von 966 Milliarden US-Dollar. Die 10. Fassung des Atlas wurde am 6. Dezember 2021 online veröffentlicht.

Beim virtuellen IDF-Jahreskongress 2021 wurden die Schlaglichter des Atlas auf 2 Veranstaltungen vorgestellt [1]. Diese befassten sich mit der weltweiten Diabetesinzidenz und -prävalenz, der Sterblichkeit und den Kosten der Erkrankung sowie mit neuen Abschnitten der aktualisierten Ausgabe, die sich mit dem Typ-1-Diabetes bei Erwachsenen, dem Typ-2-Diabetes bei Kindern und den Wechselwirkungen zwischen Diabetes und COVID-19 befassen.

Aus einigen Kapiteln des Atlas wurden am 6. Dezember 2021 detailliertere Daten in separaten Artikeln in der IDF-Zeitschrift Diabetes Research and Clinical Practice veröffentlicht. Weitere Veröffentlichungen sollen hinzukommen.

Die Informationen in dem Atlas stammen aus Peer-reviewed-Literatur, unveröffentlichten Berichten und nationalen Registern. Die aktuelle Ausgabe enthält 219 Datenquellen aus 144 Ländern, wobei die Zahlen für andere Länder extrapoliert wurden.

Zahl der erwachsenen Diabetiker steigt um 46%

Prof. Dr. Dianna Magliano von der Emory University School of Medicine in Atlanta und Mitherausgeberin des Atlas bot einen Überblick über einige der wichtigsten Daten. Die Hälfte der derzeit an Diabetes erkrankten Personen, d.h. etwa 240 Millionen Erwachsene, ist nicht ausreichend diagnostiziert, und weitere 319 Millionen haben einen gestörten Nüchternblutzucker. Über 75% aller Erwachsenen mit Diabetes leben heute in Ländern mit geringem und mittlerem Einkommen. Schließlich sind etwa 6,7 Millionen Todesfälle im Jahr 2021 auf einen Diabetes zurückzuführen.

 
Der Anstieg wird für alle Regionen der Welt erwartet, wobei die stärkste Zunahme in Afrika, im Nahen Osten und Südostasien erwartet wird. Prof. Dr. Dianna Magliano
 

Der Atlas sagt auch einen Anstieg dieser Zahlen für die kommenden Dekaden voraus, wenn sich die aktuellen Trends so fortsetzen.

„Unsere Daten und Prognosen sind ernüchternd. Man kann von einer weltweit steigenden Diabetes-Prävalenz ausgehen. Die Zahl der erwachsenen Diabetiker wird bis 2045 von aktuell 537 Millionen auf 786 Millionen ansteigen, was einem Zuwachs um 46% entspricht. Der Anstieg wird für alle Regionen der Welt erwartet, wobei die stärkste Zunahme in Afrika, im Nahen Osten und Südostasien erwartet wird“, so Magliano, Leiterin der Diabetologie und Public Health am Baker Heart and Diabetes Institute in Melbourne, Australien.

Gegenüber den Zahlen aus der letzten Fassung des Atlas von 2019 bedeuten die aktuellen Zahlen einen Anstieg um 73,6 Millionen erwachsene Diabetiker, darunter auch weitere 7,8 Millionen unzureichend diagnostizierte und 2,5 Millionen Diabetes-bedingte Todesfälle sowie globale Mehrausgaben von 206 Milliarden US-Dollar. Auch die Zahl der Menschen mit Prädiabetes, der Kinder mit Typ-1-Diabetes und der von Diabetes betroffenen Schwangerschaften hat zugenommen, berichtete Magliano.

 
Wir benötigen umgehend wirksame Interventionsstrategien und politische Maßnahmen, um den globalen Diabetesanstieg abzubremsen. Prof. Dr. Dianna Magliano
 

„Wir benötigen umgehend wirksame Interventionsstrategien und politische Maßnahmen, um den globalen Diabetesanstieg abzubremsen“, fügte sie hinzu. Der prognostizierte Anstieg der Kosten für Diabetes werde „untragbar“ sein.

Anstieg der globalen Diabeteskosten

Prof. Dr. William H. Herman, Professor für Innere Medizin und Epidemiologie an der University of Michigan in Ann Arbor, errechnet bei den derzeitigen weltweiten Diabetes-Folgekosten in Höhe von 966 Milliarden Dollar einen Anstieg um 316% gegenüber den 2006 gemeldeten 232 Milliarden Dollar.

 
Der Schlüssel zur weltweiten Kostenkontrolle in der Diabetesversorgung liegt in der Prävention und in der Bereitstellung einer wirksamen Versorgung für eine maximale Anzahl von Menschen zu den geringstmöglichen Kosten. Prof. Dr. William H. Herman
 

Mit Blick auf die Regionen entfallen laut Herman von den globalen Diabeteskosten:

  • 20% auf Europa,

  • 43% auf die USA und

  • 25% auf den Westpazifik,

  • während auf die Regionen Süd- und Mittelamerika, Afrika und Südostasien zusammen 12% entfallen.

Die direkten Diabeteskosten würden bis 2045 auf 1.054 Milliarden Dollar ansteigen, was einer Zunahme von lediglich 9% in 25 Jahren entspricht. Der Grund für den weitaus geringeren Anstieg in der Zukunft im Vergleich zu der Verdreifachung in den 15 Jahren zuvor sei der erwartete Anstieg von Diabetes in Weltregionen, deren Pro-Kopf-Ausgaben für Diabetes niedrig sein würden, was für Herman eine „untragbare“ Perspektive bedeutet.

„Der Schlüssel zur weltweiten Kostenkontrolle in der Diabetesversorgung liegt in der Prävention und in der Bereitstellung einer wirksamen Versorgung für eine maximale Anzahl von Menschen zu den geringstmöglichen Kosten“, sagte er weiter.

Diabetes-bedingte Sterblichkeit: Einige Veränderungen seit 2019

Ein Drittel der 6,7 Millionen Diabetes-bedingten Todesfälle in 2021 habe Menschen unter 60 Jahre betroffen, sagte Prof. Dr. Elbert S. Huang, Professor für Public Health an der Universität von Chicago, Illinois.

 
Diese Ergebnisse spiegeln die jüngsten Berichte über eine unzureichende Inanspruchnahme von Diabetes-Präventionsprogrammen sowie die stagnierende Qualität der Versorgung in den letzten 10 Jahren wider. Prof. Dr. Elbert S. Huang
 

Insgesamt waren 11,8% der weltweiten Todesfälle bei Menschen unter 60 Jahren auf Diabetes zurückzuführen, wobei es jedoch eine breite regionale Streuung gibt. Während es im Nahen Osten und in Nordafrika 24,5% waren, betraf dies in Südostasien nur 6,9%.

Die meisten Diabetes-bedingten Todesfälle bei Personen unter 60 Jahren gab es im zurückliegenden Jahr im westlichen Pazifikraum sowie im Nahen Osten und in Nordafrika, was eine große Veränderung gegenüber den Erhebungen von 2019 darstellt. Damals verzeichneten noch Südostasien und Afrika die meisten Diabetes-bedingten Todesfälle bei Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter.

„Diese Ergebnisse spiegeln die jüngsten Berichte über eine unzureichende Inanspruchnahme von Diabetes-Präventionsprogrammen sowie die stagnierende Qualität der Versorgung in den letzten 10 Jahren wider und unterstreichen erneut, wie wichtig es ist, auch gegen nicht-infektiöse Erkrankungen weltweit zu kämpfen“, sagte Huang.

Diabetes und COVID-19: Andere Faktoren erklären zum Teil das erhöhte Risiko

Dr. Gillian Booth vom Institute of Health Policy, Management and Evaluation an der kanadischen University of Toronto fasste die aktuelle Literatur zu COVID-19 und Diabetes zusammen. Dazu gehörte auch eine von ihrer Gruppe durchgeführte Metaanalyse von 300 Studien aus der ganzen Welt, von denen 58% aus Ländern mit hohem Einkommen stammten.

Das Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf bei Diabetikern lasse sich für Booth zumindest teilweise durch Faktoren wie Alter, Geschlecht und Begleiterkrankungen erklären.

So lag z.B. die nicht adjustierte gepoolte Odds Ratio einer Krankenhauseinweisung bei COVID-19-kranken Diabetikern gegenüber Nicht-Diabetikern bei 3,69, sank jedoch nach Adjustierung zu Alter, Geschlecht und Vorliegen einer oder mehrerer Begleiterkrankungen auf 1,73. Für COVID-19-bedingte Todesfälle betrug die Odds Ratios 2,32 (nicht adjustiert) bzw. 1,59 (adjustiert). In beiden Fällen waren die Werte auch nach der Adjustierung noch signifikant, betonte sie.

Insgesamt erwiesen sich eine Hyperglykämie und der HbA1c-Wert zum Aufnahmezeitpunkt als signifikante unabhängige Prädiktoren eines schweren Verlaufes.

„Weitere Untersuchungen werden erforderlich sein, um das Zusammenspiel zwischen COVID-19 und Diabetes zu verstehen und herauszufinden, wie man am besten gegen die unverhältnismäßig hohe Belastung von COVID-19-kranken Diabetikern vorgehen kann“, betonte sie.

Typ-1-Diabetes im Erwachsenenalter: Wachsendes Bewusstsein für die Folgen

Die Erhebung von Daten zum Typ-1- und Typ-2-Diabetes bei Jugendlichen war deutlich erschwert.

Dr. Jessica Harding gab hinsichtlich des Typ-1-Diabetes bei Erwachsenen folgende Punkte zu bedenken: Aufgrund des historischen Fokus auf Kinder sei die Epidemiologie des Typ-1-Diabetes bei Erwachsenen nicht gut charakterisiert. Zudem sei es schwierig, bei Erwachsenen zwischen einem Typ-1- und einem Typ-2-Diabetes zu unterscheiden. Schließlich gibt es in vielen Datenbanken einfach keine Angaben zur Inzidenz des Typ-1-Diabetes über die gesamte Lebenszeit.

Dennoch werde man sich zunehmend der Belastungen durch Typ-1-Diabetes im Erwachsenenalter bewusst, sagte sie und verwies darauf, dass die American Diabetes Association und die European Association for the Study of Diabetes gerade ein Konsenspapier zu diesem Thema veröffentlicht hätten.

Ein systematischer Review von 46 Studien aus 32 Ländern oder Regionen ergab, dass Eritrea beim Typ-1-Diabetes mit 46,2 pro 100.000 Einwohner ab 20 Jahren die höchste Inzidenz aufwies, gefolgt von Schweden und Irland mit jeweils 30,6. Die niedrigsten Raten gab es in asiatischen Staaten.

Während die skandinavischen Staaten Finnland, Schweden und Norwegen sowohl bei der Häufigkeit des Typ-1-Diabetes im Kindesalter (0 bis 14 Jahre) als auch im Erwachsenenalter in der Spitzengruppe rangieren, ist Eritrea in der Kindesaltergruppe nicht einmal unter den Top Ten anzutreffen.

Die ungewöhnliche Situation in Eritrea ist aktuell das Thema einer Studie, aber die Gründe dafür seien noch nicht klar, bemerkte Magliano im Fragenteil nach der Präsentation.

Und nur 7 der untersuchten Studien (15%) setzten zur Bestimmung des Typ-1-Diabetes-Status auf Biomarker. Für Harding ist es daher dringend notwendig, die Qualität und Quantität der Informationen über den Typ-1-Diabetes im Erwachsenenalter zu verbessern, was besonders für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen gelte.

Typ-2-Diabetes bei Jugendlichen: Bessere Daten erwünscht

Bei der Vorstellung der Daten zum Typ-2-Diabetes im Kindesalter sagte Prof. Dr. Andrea Luk: „Das Auftreten von schwereren krankheitsbedingten Komplikationen während der produktivsten Lebensjahre hat nicht nur erhebliche Folgen für den einzelnen Betroffenen, sondern auch für die Gemeinschaft, die Gesellschaft und die Gesundheitsfinanzen.“ Luk ist Professorin für Endokrinologie an der Chinese University in Hongkong.

Die höchste Prävalenz des Typ-2-Diabetes unter Jugendlichen wurde anhand von 19 Studien in Brasilien, Mexiko, unter der indigenen Bevölkerung in den USA und Kanada sowie in der schwarzen Population der USA Staaten festgestellt. Die Prävalenz lag hier zwischen 160 und 3.300 pro 100.000. Die niedrigsten Werte wurden mit 0,6 bis 2,7 pro 100.000 in Europa ermittelt. Die Verhältnisse bei den jährlichen Inzidenzwerten waren mit 31 bis 94 pro 100.000 bzw. 0,1 bis 0,8 pro 100.000 ähnlich.

Luk wies darauf hin, dass die kindliche Adipositas zwar ein wichtiger, jedoch nicht der einzige Faktor sei. „Manche Bevölkerungsgruppen zeigen eine geringe Adipositas-Prävalenz, wie z.B. Ostasiaten, während sie zugleich höhere Typ-2-Diabetes-Inzidenzen unter Jugendlichen erreichen als Populationen, die durch höhere Prävalenzen für die Fettleibigkeit im Kindesalter belastet sind.“

Die Inzidenzen von Jugendlichen aus verschiedenen Ländern mit ähnlicher Ethnie waren unterschiedlich. „Abgesehen von einer genetischen Veranlagung und einem Umfeld mit vielen adipösen Menschen tragen auch die Unterschiede im sozioökonomischen Status, der Zugang zur Gesundheitsversorgung und die kulturellen Besonderheiten zu den verschiedenen Risikowerten für einen Typ-2-Diabetes bei Jugendlichen bei“, erklärte Luk.

Sie wies auch darauf hin, dass die Inzidenz des Typ-2-Diabetes bei präpubertären Kindern extrem niedrig ist und erst während der Pubertät allmählich ansteigt. Die Werte seien zudem bei Mädchen höher als bei Jungen, was sich jedoch im Erwachsenenalter umkehre.

 
Es ist dringend erforderlich, Trenddaten zu erheben, um die globale Belastung durch den Typ-2-Diabetes unter Jugendlichen einschätzen zu können. Prof. Dr. Andrea Luk
 

Im Vergleich zu erwachsenen Typ-2-Diabetikern wiesen betroffene Jugendliche einen ungünstigeren Blutzuckerverlauf auf und zeigten höhere Raten eines Metformin-Versagens.

Und im Vergleich zu Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes wiesen diejenigen mit Typ-2-Diabetes ungünstigere Stoffwechselprofile und häufiger vaskuläre Komplikationen auf.

„Es ist dringend erforderlich, Trenddaten zu erheben, um die globale Belastung durch den Typ-2-Diabetes unter Jugendlichen einschätzen zu können“, schloss Luk.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
 

Kommentar

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