Debatte um ASS: Einsatz in der Primärprävention des Typ-2-Diabetes oder nur zur Sekundärprävention – die Pros und Contras

Miriam E. Tucker

Interessenkonflikte

10. Januar 2022

Auf dem virtuellen Jahreskongress 2021 der International Diabetes Federation (IDF) titelte eine Veranstaltung „ASS sollte der Sekundärprävention bei Typ-2-Diabetes vorbehalten bleiben“ [1].

Mehrere Studien und Fachgesellschaften unterstützen es nachdrücklich, dass Typ-2-Diabetiker, die bereits einen Myokardinfarkt oder Schlaganfall erlitten haben, zur kardiovaskulären Sekundärprävention täglich in niedriger Dosierung ASS einnehmen. Die American Diabetes Association (ADA) empfahl zu Beginn dieses Jahres für diese Fälle z.B. 75 bis 162 mg ASS täglich.

Umstrittener ist hingegen die ASS-Gabe zur kardiovaskulären Primärprävention bei Patienten ohne vorherige kardiovaskuläre Ereignisse. Für solche Personen könne laut ADA „nach einer eingehenden Abwägung der Vorteile gegenüber dem Nachteil des vergleichbar erhöhten Blutungsrisikos mit dem Patienten ein solcher Einsatz in Betracht gezogen werden“.

Die gemeinsamen Leitlinien 2019 der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) und der European Association for the Study of Diabetes (EASD) empfehlen für Typ-2-Diabetiker mit einem hohen oder sehr hohen kardiovaskulären Risiko täglich 75 bis 100 mg ASS zur Primärprävention, sofern keine eindeutigen Kontraindikationen vorliegen. Dies gelte jedoch nicht für Personen mit einem höchstens moderaten Risiko.

Die beiden Gesellschaften raten dazu, eventuell auch Protonenpumpeninhibitoren (PPI) zu verordnen, wenn ASS in niedriger Dosierung gegeben werden soll, um gastrointestinale Blutungen als eine der häufigsten ASS-Nebenwirkungen zu verhindern.

Erst kürzlich hatte die US Preventive Services Task Force (USPSTF) in einem Leitlinienentwurf geäußert, dass ASS zumindest bei Personen über 60 Jahren nicht hilfreich für die Primärprävention sei und nicht gegeben werden sollte, wie Medscape berichtete. Für jüngere Personen gab es eine Empfehlung der Stufe C, was bedeutet, dass die Entscheidung für oder gegen eine ASS-Medikation individuell getroffen werden sollte, da der Nettonutzen allenfalls gering ist.

Kontroverse Debatte beim Kongress

Bei der IDF-Debatte am 9. Dezember 2021 sprach sich Prof. Dr. Jane Armitage, Professorin für Epidemiologie und Gastdozentin an der britischen Oxford-Universität, dafür aus, ASS bei Diabetikern nur zur Sekundärprävention zuzulassen.

Sie leitete 2018 die ASCEND-Studie. Damals hatte sich gezeigt, dass ASS das Risiko für schwerwiegende vaskuläre Ereignisse um 12% senkt, allerdings gleichzeitig das Risiko für schwere Blutungen um 29% erhöht. Diese Ergebnisse flossen sowohl in die US-amerikanischen als auch in die europäischen Leitlinien ein.

Prof. Dr. Bianca Rocca, Professorin für Pharmakologie an der Catholic University School of Medicine in Rom und Mitverfasserin der ESC/EASD-Leitlinien, vertrat eine andere Ansicht.

 
Diese Substanzen [Statinen und Blutdrucksenker] halbieren das kardiovaskuläre Risiko bei Gesunden auf sichere Weise und sollten daher als Erstes in Betracht gezogen werden, wenn man das kardiovaskuläre Risiko senken will. Prof. Dr. Jane Armitage
 

Sie stützt sich auf Belege, nach denen ASS bei Menschen mit mittelhohem kardiovaskulärem Risiko einen eindeutigen Zusatznutzen bei der Verhinderung eines ersten Herzinfarkts hat, der über den von Statinen und Antihypertensiva hinausgeht. Die Einschätzung zur Sicherheit rühre von der Definition schwerer Blutungen her, während das Risiko von Magen-Darm-Blutungen medikamentös gesenkt werden könne.

ASS sollte der kardiovaskulären Sekundärprävention vorbehalten bleiben

Armitage wies zu Beginn darauf hin, dass in den Industrienationen das kardiovaskuläre Risiko in den vergangenen Jahren dank des verbreiteten Einsatzes von Statinen und Blutdrucksenkern erheblich gesunken sei. „Diese Substanzen halbieren das kardiovaskuläre Risiko bei Gesunden auf sichere Weise und sollten daher als Erstes in Betracht gezogen werden, wenn man das kardiovaskuläre Risiko senken will“, stellte sie fest.

Im Gegensatz dazu sei „ASS kein völlig sicheres Medikament, weil es das Blutungsrisiko erhöht. Wenn wir also solche Behandlungen bei ansonsten gesunden Menschen durchführen, muss das Risiko einer Schädigung schon sehr niedrig und der Nutzen beträchtlich größer sein“, so Armitage.

Neben der ASCEND-Studie gab es noch 6 weitere, die sich der Primärprävention mit ASS in den modernen Zeiten der Statine und Antihypertensiva widmeten. Dabei wurden im Gegensatz zu den gesunden Menschen in früheren Studien Personen mit mittlerem kardiovaskulärem Risiko eingeschlossen. Von diesen Untersuchungen kam es nur in der ASCEND-Studie zu einem eindeutigen und statistisch signifikanten Rückgang bei den vaskulären Ereignissen, betonte sie.

 
ASS ist kein völlig sicheres Medikament, weil es das Blutungsrisiko erhöht. Prof. Dr. Jane Armitage
 

Eine 2019 durchgeführte Metaanalyse dieser 7 Studien plus 6 älterer mit Daten von insgesamt 164.225 Personen, von denen 19% Diabetiker waren, ergab einen Rückgang um 11% für das Risiko ischämischer Ereignisse ( Medscape berichtete).

Dieser Vorteil wurde jedoch durch ein um 43% höheres Risiko für schwere Blutungen und ein um 56% höheres Risiko für schwere gastrointestinale Blutungen zunichtegemacht. Dies entspricht einer Verringerung bei den schwerwiegenden vaskulären Ereignissen um 5 pro 10.000 Personenjahre, aber einer Erhöhung des Risikos für schwere Blutungen um 6 bis 7 pro 10.000 Personenjahre. Natürlich hängen diese Rechnungen auch von den Ereignisraten, dem Alter und der Grunderkrankung ab.

„Die Kernfrage lautet somit, ob wir das Optimum finden können, mit dem die Menschen einen klar höheren Benefit durch eine ASS-Medikation haben. Aber im Moment sind wir noch auf der Suche danach“, so Armitage.

Durch eine weitere, detailliertere Metaanalyse versuche aktuell die Antithrombotic Trialists' Collaboration mehr Licht in diese Angelegenheit zu bringen, erklärte Armitage.

In einer Metaanalyse aus dem Jahr 2009, die frühere Studien zur Primärprävention mit ASS ausgewertet hat, waren die Risikofaktoren für kardiovaskuläre Ereignisse und Blutungen ähnlich: männliches Geschlecht, Diabetes, Rauchen und ein um 20 mmHg höherer Blutdruck.

 
Die Kernfrage lautet somit, ob wir das Optimum finden können, mit dem die Menschen einen klar höheren Benefit durch eine ASS-Medikation haben. Prof. Dr. Jane Armitage
 

„Die kardiovaskulären Risiken unserer Diabetespatienten kennen wir gewöhnlich sehr gut, aber das erhöhte Risiko für schwere gastrointestinale Blutungen tritt dabei manchmal ein wenig in den Hintergrund. Das ist das Problem. Ich würde daher nachdrücklich dafür plädieren, die ASS-Gabe derzeit auf die Sekundärprävention zu beschränken und sie nicht zur Primärprävention heranzuziehen“, schloss Armitage.

ASS sicher und wirksam bei Hochrisikopatienten zur Absenkung des Risikos eines ersten thromboembolischen Ereignisses

Rocca erinnerte zunächst daran, dass das Risiko eines Diabetikers für das erste schwere thromboembolische Ereignis gegenüber Personen ohne Diabetes doppelt so hoch ist, und das selbst mit den aktuellen Therapiemöglichkeiten. „Das Problem ist also, bei jedem einzelnen Typ-2-Diabetiker das erste schwere vaskuläre Ereignis möglichst sicher zu verhindern."

Sie verwies auf eine kürzlich durchgeführte Metaanalyse an 18.162 Patienten mit mittlerem bis hohem Risiko, wovon etwa 40% Diabetiker waren. Sie alle wurden zufällig entweder mit einer festen Dosiskombination aus einem Statin und mindestens 2 Antihypertensiva oder als Kontrollgruppen (Placebo oder übliche Behandlung) mit oder ohne zusätzlich ASS behandelt.

ASS führte zu einem signifikanten Benefit gegenüber der alleinigen festen Dosiskombination. Der primäre Endpunkt war die Zeit bis zum kardiovaskulären Tod oder zum ersten Auftreten eines Herzinfarkts, eines Schlaganfalls oder einer arteriellen Revaskularisation. Die Risikominderung lag bei 47% für den primären Endpunkt und die 5-Jahres-Number-to-treat bei 37 für die Dosiskombination mit ASS.

In diesem Fall wurde kein signifikant erhöhtes Blutungsrisiko unter ASS festgestellt. Es gab einen leichten Anstieg bei den gastrointestinalen Blutungen von 0,2% auf 0,4%, der jedoch mit einer 5-Jahres-Number-to-treat von 554 nicht signifikant war, so Rocca.

Rocca bezeichnete die ASCEND-Studie als „einen starken Beitrag zu der Frage, ob sich der ASS-Einsatz in der Primärprävention bezahlt macht“. Sie wies auch darauf hin, dass etwa 75% der Teilnehmer Statine und 60% Antihypertensiva einnahmen, sodass es sich um „eine gut kontrollierte Population“ handelte.

 
Ich würde daher nachdrücklich dafür plädieren, die ASS-Gabe derzeit auf die Sekundärprävention zu beschränken und sie nicht zur Primärprävention heranzuziehen. Prof. Dr. Jane Armitage
 

Tatsächlich fand sich in der ASCEND-Studie kein Hinweis auf ein erhöhtes Risiko für intrakranielle Blutungen, tödliche Blutungen oder die Sehkraft bedrohende okuläre Blutungen unter ASS-Gabe. Der absolute Anstieg an schweren Blutungen um 0,9% ging vorwiegend auf das Konto schwerer Magen-Darm-Blutungen.

 
Das Problem ist also, bei jedem einzelnen Typ-2-Diabetiker das erste schwere vaskuläre Ereignis möglichst sicher zu verhindern. Prof. Dr. Bianca Rocca
 

Das bei ASCEND eingesetzte Klassifikationsmodell für Blutungen war das vom Bleeding Academic Research Consortium (BARC) abgeleitete 5-stufige System. Studien zur Zulassung von Ticagrelor und anderen Medikamenten hatten sich des viel einfacheren 3-stufigen TIMI-Modells bedient (thrombosis in myocardial infarction), das nur zwischen „schweren“, „leichten“ und „minimalen“ Blutungen unterscheidet, erklärte sie.

In einer Studie von 2019 wurde festgestellt, dass die Verwendung der BARC-Klassifikation bei einer großen Studie zum Vergleich antithrombotischer Medikamente zu einem 3-fach höheren Anstieg bei der Zahl der als „schwer“ eingestuften Blutungen führte.

Rocca wies auch darauf hin, dass gastrointestinale Blutungen vermeidbar seien. In einer großen randomisierten, placebokontrollierten Studie habe das PPI Pantoprazol die gastrointestinalen Blutungen bei Patienten, die aufgrund einer stabilen kardiovaskulären Erkrankung eine niedrig dosierte Antikoagulation und/oder ASS erhielten, verringert, ohne dass es Hinweise auf kardiovaskuläre Schäden gegeben habe.

„Dies könnte die Risiko-Nutzen-Abwägung bei der ASS-Gabe neben der Sekundärprävention auch bei der Primärprävention günstiger aussehen lassen“, sagte Rocca.

 
Dies könnte die Risiko-Nutzen-Abwägung bei der ASS-Gabe neben der Sekundärprävention auch bei der Primärprävention günstiger aussehen lassen. Prof. Dr. Bianca Rocca
 

Schließlich wies sie auch auf die Bedeutung der Patientenpräferenz hin. Eine Publikation von 2017 lege nah, dass „geringfügige“ oder „minimale“ Blutungen von Patienten als weniger schwerwiegend empfunden werden als ein Herzinfarkt, ein ischämischer Schlaganfall oder eine transitorische ischämische Attacke.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert
 

Kommentar

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