Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sieht Regelungsbedarf bei dem, was derzeit viele Ärzte umtreibt: die Pandemie-bedingte Triage. Der erste Senat des BVerfG schreibt in seiner am Dienstag veröffentlichten Entscheidung (1BvR 1541/ 720): Der Bundesgesetzgeber habe Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz verletzt, „weil er es unterlassen hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen seiner Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt wird.“ Er müsse nun „auch im Lichte der Behindertenkonvention“ und dies „unverzüglich“ Vorkehrungen treffen, dass jede Benachteiligung „hinreichend wirksam verhindert wird“.
In dem betreffenden Artikel des Grundgesetzes heißt es: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Das Grundrecht schütze im Übrigen auch chronisch kranke Menschen, „die entsprechend längerfristig und entsprechend gewichtig beeinträchtigt sind“, heißt es in der Entscheidung.
Auch die UN-Behindertenkonvention fordert in Artikel 25 für behinderte Menschen die bestmögliche Gesundheit, die gleiche Gesundheitsvorsorge und die gleichen Gesundheitsleistungen für Behinderte wie für nicht Behinderte.
Geklagt hatten eine Reihe von schwer und schwerst behinderter Menschen.
Die Karlsruher Richter argumentieren, dass sich aus dem Grundgesetz nicht nur ein Schutzauftrag für Behinderte ergebe, sondern bei bestimmten Konstellationen sogar eine Schutzpflicht des Gesetzgebers gegenüber behinderten Menschen. Und zwar in Fällen „struktureller Ungleichheit“ oder einer Ausgrenzung, die als Angriff auf die Menschenwürde zu werten sei. Eine Handlungspflicht bestehe dann, wenn es um den Schutz des Lebens gehe.
Eine solche Verdichtung zur konkreten Schutzpflicht liege vor, wenn das Risiko bestehe, dass Menschen mit einer Behinderung im Rahmen einer medizinischen Triage benachteiligt werden. Ein solches Risiko sei bei einer auf Gleichberechtigung angelegten Rechtsordnung „nicht hinnehmbar“, heißt es weiter in der Entscheidung.
„Subjektive Diskriminierungselemente“ bei Ärzten
Genau für dieses Risiko aber lägen Anhaltspunkte vor, erklärt das Gericht. Auch aus ärztlicher Sicht werde davon ausgegangen, dass sich in den komplexen Entscheidungsmomenten einer intensivmedizinischen Therapie „subjektive Momente ergeben können, die Diskriminierungselemente beinhalten“ können, formulieren die Richter sehr vorsichtig.
Im Übrigen werde die Lebenssituation von Behinderten nach Ansicht von Sachkundigen oft falsch bewertet und dabei „eine unbewusste Stereotypisierung das Risiko mit sich bringen, behinderte Menschen bei medizinischen Entscheidungen zu benachteiligen“.
Das Gericht ging auch auf die Empfehlung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) vom November 2021 ein. Erstens seien diese Empfehlungen rechtlich nicht verbindlich. Und zweitens bergen sie nach Ansicht des BVerfG die Gefahr, zum „Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen“ werden zu können, so die Richter.
Denn die DIVI-Empfehlungen schlössen nicht aus, dass eine Behinderung pauschal mit Komorbiditäten in Verbindung gebracht werden könne, die von der DIVI im Rahmen einer Triage als negative Indikatoren gewertet werden.
Jetzt ist der Gesetzgeber gefragt
Nun sei der Gesetzgeber am Zuge, so die Richter. Er müsse sicherstellen, dass „allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird.“ Allerdings betont er auch, dass es für die behandelnden Ärzte besonders fordernd sein kann, in der extremen Entscheidungssituation auch Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung zu triagieren.
Der Gesetzgeber sei frei darin, ob er Vorgaben zu den Kriterien der Verteilungsentscheidungen mache. Er könne zum Beispiel Vorgaben für das Mehraugen-Prinzip machen oder für die Dokumentation oder auch Einfluss nehmen auf die Aus- und Weiterbildung, schreiben die Verfassungsrichter. „Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, welche Maßnahmen zweckdienlich sind.“
Zurückhaltung bei der DIVI
Die DIVI reagierte prompt auf die Entscheidung der Karlsruher Richter, allerdings ohne direkt auf ihre Kritik an der DIVI-Position einzugehen. „Das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichtes stärkt der DIVI mit ihrer bereits zu Beginn der Pandemie veröffentlichten Leitlinie den Rücken. Wichtig ist aber weiterhin zu betonen: ‚Triage‘ bedeutet das Leben eines Patienten nicht zu retten, um das Leben eines anderen retten zu können“, erklärte DIVI-Präsident Prof. Dr. Gernot Marx.
Und weiter: „In Deutschland mussten wir Intensivmediziner zum Glück noch nie eine solche Entscheidung fällen und glauben auch, dass eine solche Situation nicht bevorsteht.“ Auch zukünftig werde man sich in der Aus-, Fort- und Weiterbildung bezüglich des Themas engagieren, so die DIVI in einer Mitteilung. Deshalb begrüße sie es, dass das Bundesverfassungsgericht besonderen Wert auf die Aus- und Weiterbildung lege, um die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen in einer Triage-Situation zu vermeiden.
Ärzte – in Extremsituationen entscheiden sie
Bundesärztekammer-Präsident Dr. Klaus Reinhardt appellierte an den Gesetzgeber, die verfasste Ärzteschaft bei der Ausgestaltung der von dem Bundesverfassungsgericht ausdrücklich eingeräumten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielräume der zu schaffenden gesetzlichen Regelungen eng einzubinden. Kein Menschenleben sei mehr wert als ein anderes. Zugleich begrüßte die BÄK es, dass das BVerfG die Letztverantwortung die Verantwortung, medizinische Sachverhalte zu beurteilen beim ärztlichen Personal sieht.
Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) stellt sich hinter die Karlsruher Entscheidung, dass Vorgaben des Gesetzgebers eine Hilfe bei der Triage sein können. Der Beschluss unterstütze die Arbeit der Ärzte in den Krankenhäusern und gebe Rechtssicherheit. Aber das moralische und ethische Dilemma der Ärzte bleibe bestehen, „in Extremsituationen unter hohem Druck und in extremer Eile Priorisierungsentscheidungen zu treffen“, so die DKG.
Reaktionen der Politik
„Ich begrüße das Urteil des BVG ausdrücklich“, kommentierte Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) auf Twitter. „Menschen mit Behinderung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat. Erst recht im Falle einer Triage. Jetzt aber heißt es, Triage durch wirksame Schutzmaßnahmen und Impfungen zu verhindern.“
Via Twitter meldete sich auch Marco Buschmann (FDP) zu Wort. „Das erste Ziel muss sein, dass es erst gar nicht zu einer Triage kommt“, erklärte der Bundesjustizminister. „Wenn aber doch, dann bedarf es klarer Regeln, die Menschen mit Handicaps Schutz vor Diskriminierung bieten.“ Die Bundesregierung werde „zügig einen Entwurf vorlegen“.
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Diesen Artikel so zitieren: Um Leben und Tod – Verfassungsrichter fordern vom Gesetzgeber Vorkehrungen zum Schutz Behinderter bei einer Triage - Medscape - 29. Dez 2021.
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