Rückblick, Augenblick und Ausblick: Dieses Jahr Delta, nächstes Jahr Omikron…und dann?

Dr. Thomas Kron

Interessenkonflikte

27. Dezember 2021

Die USA und China gelten landläufig als Supermächte. Doch die wahren Herrscher dieser Welt heißen seit 2020 nicht Joe Biden, auch nicht Xi Jinping oder gar Wladimir Putin. Der wahre Herrscher ist ein Winzling mit einem Durchmesser von weniger als 150 Nanometern und dem sperrigen Namen „Severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2“, kurz SARS-CoV-2. 

Dieses RNA-Virus dominiert Terminkalender und Konferenzen vieler Mächtiger in Politik und Wissenschaft. Es lässt Börsenkurse steigen und fallen, bestimmt aber auch, ob wir Freunde besuchen oder in die Oper gehen können. Und das Allerschlimmste: Das Virus hat inzwischen mehr Menschen getötet als in so manchem Krieg. 

Delta – die gefährliche Variante des Jahres 2021

Offiziell begann das Unheil Anfang 2020. Bereits die ersten Monate waren katastrophal. Bilder aus Bergamo und New York werden vielen Menschen lange in Erinnerung bleiben. Noch düsterer wurde es, als 2021 Delta auftauchte, die seitdem vorherrschende Mutation. Denn Delta ist deutlich gefährlicher als die bisherigen Variants of Concern (VOC). Die neue Variante sei so kontagiös wie das Windpocken-Virus, verursache häufiger als alle früheren Varianten Durchbruchsinfektion und führe zu schwereren Krankheitsverläufen, erklärten zum Beispiel im Juli dieses Jahres die Centers of Disease Control and Prevention in Atlanta. 

Das Risiko für eine Krankenhauseinweisung sei bei einer Infektion mit der Delta-Variante des Coronavirus etwa doppelt so hoch wie bei der Alpha-Variante, berichteten auch britische Wissenschaftler in  The Lancet Infectious Diseases .  Die Delta-Variante führe zu etlichen Durchbruchsinfektionen bei Geimpften, meldeten andere Wissenschaftler.

Mögliche Gründe für Reinfektionen trotz Impfung sind ein schwaches Immunsystem, ein hohes Alter (Immunoseneszenz), eine verminderte Impfstoff-Wirksamkeit sowie eine nachlassende Impfwirkung. Aktuellen Daten aus Israel zufolge steigt das Infektionsrisiko sogar schon 90 Tage  nach der 2. Impfung mit Comirnaty (Odds Ratio 2,37-2,82).

Reinfektionen trotz Impfung zwingen zum Boostern

Aufgrund der nachlassenden Wirkung der Impfung haben mehrere Staaten damit begonnen, Bürgern Auffrischungsimpfungen anzubieten. Dass solche Booster effektiv und sicher sind, haben mehrere Studien gezeigt. So ergab bereits eine Mitte September 2021 publizierte Auswertung von Daten aus Israel, dass die Impfung mit einer 3. Dosis des Vakzins von Biontech/Pfizer bei Personen über 60 Jahren die Zahl der bestätigten COVID-19-Erkrankungen um mehr als das 10-Fache und die Zahl der schweren Erkrankungen um fast das 20-Fache senken konnte.

Zu dieser Zeit war es allerdings noch nicht Konsens, dass Booster generell sinnvoll sind. Beispielsweise riet eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern, darunter auch Vertreter der WHO und der FDA, in  The Lancet  zur Zurückhaltung. Nach Ansicht der Autoren sei eine Auffrischungsimpfung für die Allgemeinbevölkerung weder erforderlich noch angemessen, da die Wirksamkeit des Impfstoffs zur Verhinderung schwerer COVID-19-Verläufe selbst bei der Delta-Variante sehr hoch sei.

Inzwischen gibt es keine ernsthaften Zweifel mehr daran, dass Boostern sogar eine conditio sine qua non im Kampf gegen die Pandemie ist, zum einen, weil es immer mehr Durchbruchsinfektionen gibt, die auch zu schweren Krankheitsverläufen führen, zum anderen, weil mit Omikron eine neue Virus-Variante aufgetaucht ist, die aufgrund ihrer besonders hohen Infektiösität schon bald Delta als dominierende Variante in vielen Ländern ablösen wird. 

Zudem bekräftigen aktuelle Real-World-Daten erneut, wie effektiv die Boosterung ist, in diesem Fall mit der Vakzine von BioNTech/Pfizer. Außerdem erweisen sich solche Auffrischungen als sicher. Schwerwiegende unerwünschte Nebenwirkungen sind bisherigem Wissen nach selten, wie etwa Interims-Daten belegen, die Pfizer und BioNTech bei einem Treffen des APIC (Advisory Committee on Immunization, Centers for Disease Control and Prevention) in Atlanta präsentiert haben. Seit einigen Wochen wird nun auch in Deutschland geboostert, was das Zeug hält. Das mag wohl auch an einer Empfehlung der STIKO vom November 2021 liegen. Sie rät Ärzten, allen Personen ab 18 Jahren eine Auffrischimpfung mit einem mRNA-Vakzin anzubieten.

Sicherheitsbedenken vor allem aufgrund von Herzmuskelentzündungen

Ähnlich wie 2020 vakzin-induzierten immunthrombotischen Thrombozytopenien und Sinusvenenthrombosen im Mittelpunkt des Interesses gestanden sind, ging es 2021 um Herzmuskelentzündungen.

Nachdem Daten einer Registerstudie aus Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden nahegelegt hatten, dass das Risiko einer Peri-/Myokarditis unter dem Moderna-Vakzin höher sein könnte als unter dem Impfstoff von Biontech/Pfizer, wurden in nordischen Ländern Anfang Oktober Anwendungsbeschränkungen für Moderna ausgesprochen. Ein erhöhtes Myokarditis-Risiko nach Impfung mit dem Impfstoff von Moderna zeigten auch Daten aus Frankreich.

Wie in anderen Untersuchungen waren vor allem junge Männer betroffen, wobei auch hier das Myokarditis-Risiko nach Impfung mit Moderna deutlich höher war als mit Biontech/Pfizer (Odds Ratio 79,8 versus 10,9).

Dennoch ist das Nutzen-Risiko-Verhältnis der Impfung weiterhin eindeutig positiv. Impfstoff-bezogene Herzmuskelentzündungen sind zwar möglich, aber sehr selten, wie unter anderen auch aktuelle Daten zweier Studien aus Israel ergeben haben. Zudem verliefen die Herzmuskelentzündungen bei den meisten Patienten mild. Junge Menschen hätten sich rasch von einer Myokarditis nach COVID-19-Impfung erholt, berichteten kürzlich auch amerikanische Wissenschaftler nach der Auswertung von US-Daten

Myokarditis durch SARS-CoV-2 häufiger und gefährlicher als durch Vakzine

Dass Myokarditiden nach Impfung gegen SARS-CoV-2 selten sind, ergaben darüber hinaus die bisherigen Untersuchungen des Sicherheitsausschusses der EMA Auch aktuelle britische Daten bestätigen: Eine Myokarditis durch die Impfung ist selten und vor allem deutlich seltener und leichter als eine Myokarditis durch SARS-CoV-2. Berechnungen ergaben bei der Erstimpfung mit dem vektor-basierten Impfstoff 2 zusätzliche Myokarditis-Ereignisse, bei der Erstimpfung mit Comirnaty® 1 zusätzliches Ereignis und bei der Erstimpfung mit Spikevax® 6 zusätzliche Myokarditis-Fälle, jeweils pro 1 Million Impfungen. Nach der 2. Impfung mit dem Moderna-Vakzin waren es 10 zusätzliche Fälle. 

Zum Vergleich: Bei Personen mit positivem SARS-CoV-2-Test wurden 40 Myokarditis-Fälle pro 1 Millionen Personen innerhalb von 28 Tagen nach dem Test ermittelt. Zudem habe man ein erhöhtes Risiko für Perikarditis und Herzrhythmusstörungen nach einem positiven SARS-CoV-2-Test festgestellt, berichten Wissenschaftler. 

Ähnliche Zusammenhänge seien bei keinem der Impfstoffe beobachtet worden, abgesehen von einem erhöhten Risiko für Herzrhythmusstörungen nach einer 2. Dosis des Moderna-Impfstoffes. Subgruppen-Analysen nach dem Alter hätten zudem gezeigt, dass das erhöhte Myokarditis-Risiko im Zusammenhang mit den beiden mRNA-Impfstoffen nur bei Personen unter 40 Jahren aufgetreten sei.

Impfung auch für Kinder wirksam und sicher

Als überaus wirksam und vor allem sicher haben sich die mRNA-Impfstoffe auch bei Kindern im Grundschulalter erwiesen. So induzierte das BioNTech/Pfizer-Vakzin bei 99 % der Kinder von 5 bis 11 Jahren eine Serokonversion in Woche 4 nach der 2. Impfung und schützte zu fast 91% vor einer Infektion. Fast 5 Millionen Kinder im Alter von 5 bis 11 Jahren seien inzwischen in den USA gegen COVID-19 geimpft; Herzmuskelentzündungen seien bislang nicht festgestellt worden, hatte Dr. Rochelle Walensky, Direktorin der Centers for Disease Control and Prevention, erklärt. 

Neues Unheil droht: Omikron

Das sind sicher gute Nachrichten. Aber bekanntlich ist vor wenigen Tagen neues Unheil über die Welt hereingebrochen. Denn als wäre Delta nicht schon schlimm genug, gibt es nun noch eine besorgniserregende Mutante, die die Welt in Alarmstimmung versetzt. Es geht um die Variante Omikron

Gründe für die Sorgen: Das Reinfektionsrisiko ist bei der Omikron-Variante deutlich höher als bei Beta und Delta. Der Impfschutz ist klar geringer, wie Labor-Untersuchungen und auch erste klinische Daten zeigen. 

Experten in Deutschland sind daher, wie berichtet, überaus besorgt. So warnten auf einer Pressekonferenz des Science Media Center  Prof. Dr. Sandra CiesekProf. Dr. Christoph Neumann-Haefelin und Prof. Dr. Dirk Brockmann unisono vor einem dramatischen Szenario, das durch die neue hoch-ansteckende Immune-Escape-Variante schon in wenigen Wochen drohe. Omikron breite sich mit einer Geschwindigkeit aus, wie sie bislang noch nicht gesehen worden sei, sagte Brockmann. „Das ist um den Faktor 3 bis 4 schneller als bisher bekannt – so was hatte bislang keiner auf dem Radar. Das sind Zeitskalen, die wir bisher nicht kannten.“

 „Alle Zeichen stehen auf Rot“, warnte auch Ciesek, Direktorin des Instituts für medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt. Doch sie habe nicht den Eindruck, dass dies bei den politisch Verantwortlichen in Deutschland bereits angekommen sei. Sie bezog sich dabei vor allem auf die aktuelle Entscheidung, Geboosterte bei 2G+ von der Testpflicht auszunehmen. „Darauf zu verzichten, halte ich nicht für klug“, sagte sie.

Erst die Pandemie, dann Long-COVID

So sicher offenbar die Omikron-Welle auf die Welt zurollen wird, so sicher ist auch, dass mit dem Ende der Pandemie die Welt nicht aufatmen kann. Denn außer ökonomischen und sozialen Folgen hat COVID-19 auch gesundheitliche Langzeit-Folgen. Ein Teil der virologisch Genesenen ist weiterhin krank, leidet etwa unter Fatigue, Konzentrationsstörungen und Muskelschmerzen.  

Dass manche COVID-19-Patienten auch nach der Akutphase der Infektionskrankheit und der Klinik-Entlassung noch erhebliche Beschwerden haben, wurde bereits in 2020 klar. So wies die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin darauf hin, dass auch nach Abklingen der Infektion die Lungenfunktion und die körperliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigt sein können; einige „genesene“ Patienten benötigten daher nach der Akutphase der Erkrankung eine fachkundige Nachsorge und Rehabilitation durch erfahrene Pneumologen. Die Fachgesellschaft veröffentlichte recht früh ihre „Empfehlungen zur pneumologischen Rehabilitation bei COVID-19“.

Ein Silberstreif am Horizont

Es gibt allerdings auch ein Fünkchen Hoffnung. Oral verabreichte Wirkstoffe können vorläufigen Studien-Resultaten zufolge bei COVID-19-Patienten womöglich Krankenhauseinweisungen oder Todesfälle verhindern. 

Vielversprechend sehen insbesondere vorläufige Daten zu dem Protease-Hemmer Nirmatrelvir (Paxlovid® von Pfizer aus. Laut Hersteller wurde bei COVID-19-Patienten, die innerhalb von 3 Tagen nach Auftreten der Symptome behandelt wurden, eine 89-prozentige Verringerung der COVID-19-bedingten Krankenhauseinweisungen oder Todesfälle aus jeglicher Ursache beobachtet. 

Weniger optimistisch stimmen die Daten zu Molnupiravir, dem oralen Wirkstoff von Merck (MSD). Trotz der vergleichsweise geringen Wirksamkeit und trotz möglicher Sicherheitsbedenken hat ein Berater-Gremium der FDA die Zulassung von Molnupiravir für mit hohem Risiko für schweres COVID-19-Verläufe empfohlen. 

Gewiss ist hingegen schon jetzt: Auch im kommenden Jahr wird das Virus im Weltgeschehen und in unserem Leben ein kräftiges Wörtchen mitreden, und zwar kaum weniger als Biden, Putin und Co. 

Dieser Beitrag erschien im Original bei Univadis.de.

 

Kommentar

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