Ein „Graben, der nicht existiert“? Die Politik setzt gegen Omikron vor allem aufs Impfen, das RKI sieht es anders

Sonja Boehm

Interessenkonflikte

22. Dezember 2021

Deutschland diskutiert. Vielen Medizinern und Wissenschaftlern gehen die Beschlüsse der MinisterpräsidentInnen(MPK)-Konferenz vom gestrigen Dienstag nicht weit genug – und treten vor allem nicht rasch genug in Kraft – um der drohenden Wucht der Omikron-Welle, die wie Bundeskanzler Olaf Scholz selbst sagt , „sich vor uns auftürmt“, zu begegnen.

Auch zeigen sich unterschiedliche Ansichten zur Strategie. Während das Bundesgesundheitsministerium (BMG) auf „besonders offensive Booster-Kampagnen“ setzt, wie Minister Karl Lauterbach, bei der heutigen Bundes-Pressekonferenz betonte, hat das RKI unter seinem Chef Prof. Dr. Lothar H. Wieler gestern eine Aktualisierung seiner Empfehlungen publiziert, in der in erster Linie auf „maximale Kontaktbeschränkungen ab sofort“ gegen Omikron gesetzt wird.

MPK setzt vor allem auf Booster gegen Omikron

Die MPK-Beschlüsse, die am Dienstagabend bei einer Pressekonferenz verkündet worden waren, im Überblick:

  • Es wird weiter intensiv geimpft und vor allem geboostert, auch im Januar sind weitere 30 Millionen Impfungen das Ziel.

  • Ab dem 28. Dezember treten Kontaktbeschränkungen für alle in Kraft: Dann sind private Treffen nur noch mit bis zu 10 Personen zulässig – das gilt auch für Silvester.

  • Überregionale Großveranstaltungen (Fußballspiele) finden ohne Publikum statt.

  • Clubs und Diskos bleiben zu, es gilt weiter 3G am Arbeitsplatz und in Bussen und Bahnen.

  • Die kritische Infrastruktur soll ihre Pandemiepläne aktualisieren.

Warum so wenig neue Einschränkungen und warum erst ab dem 28. Dezember? Dies fragen die Kritiker. Tatsächlich haben wohl Sachsen und Baden-Württemberg laut einer Protokollerklärung den MPK-Beschlüssen nur widerwillig zugestimmt. Sie halten die Maßnahmen „für nicht weitgehend genug“. Und der derzeitige Leiter der MPK der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen Hendrik Wüst (CDU) ließ bei der Pressekonferenz auf eine Journalistenfrage ebenfalls Unzufriedenheit erkennen: „Wann, wenn nicht jetzt, haben wir eine epidemische Lage von nationaler Tragweite“, sagte er. „Insofern ist der Beschluss, dass sie nicht fort gilt, aus meiner Sicht ein klarer Fehler.“

 
Wann, wenn nicht jetzt, haben wir eine epidemische Lage von nationaler Tragweite. Hendrik Wüst
 

Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern haben zudem angekündigt, dass dort die neuen Regeln bereits ab dem 24. Dezember gelten, in Baden-Württemberg sollen sie ab dem 27. Dezember gelten.

RKI will vor allem „maximale Kontaktbeschränkungen“ – und zwar sofort!

Während die Politiker betonen, mit diesen Beschlüssen die Empfehlungen ihres Expertenrates vom Sonntag (wir berichteten) umgesetzt zu haben, sehen dies wohl einige dieser Experten nicht so. Für Ärger in der Politik hatte am Dienstag eine Aktualisierung der „COVID-19-Strategie“ des RKI gesorgt.

Darin hatte die Behörde, deren Chef Wieler ebenfalls Mitglied des Expertenrates der Bundesregierung ist, direkt im Vorfeld der MPK deutlich raschere und weitergehende Maßnahmen gefordert. Nämlich: „Maximale Kontaktbeschränkungen; maximale infektionspräventive Maßnahmen; maximale Geschwindigkeit bei der Impfung der Bevölkerung (Erst- und Booster-Impfungen); die Reduktion von Reisen auf das unbedingt Notwendige und intensive Begleitkommunikation zum Verständnis der Maßnahmen.“

All dies solle „sofort begonnen und zunächst bis Mitte Januar 2022 beibehalten werden“, heißt es. Das RKI verspricht sich dabei besonders von den „konsequenten und flächendeckenden Kontaktbeschränkungen und dem Einsatz von infektionspräventiven Maßnahmen“ die größten Effekte auf die Dynamik der Omikron-Welle.

Dies im Gegensatz zu BMG und der Ampel-Regierung unter Leitung von Bundeskanzler Scholz, die vor allem auf die Intensivierung der Impfungen und Booster setzt. Dagegen sieht das RKI in diesem Instrument wohl eher nicht die entscheidende Rolle. „Die maximale Beschleunigung der Geschwindigkeit bei den Impfungen wirkt hierzu (mit einer Verzögerung von 1-2 Wochen) synergistisch“, heißt es in den RKI-Empfehlungen. Die STIKO hat gestern ebenfalls eine neue Empfehlung herausgegeben, sie empfiehlt Booster-Impfungen nun schon 3 Monate nach der Zweitimpfung.

Lauterbach: RKI-Aktualisierung „nicht abgestimmt“; FDP nach wie vor gegen Lockdown

Bundesgesundheitsminister Lauterbach soll die Veröffentlichung der RKI-Aktualisierung als „nicht abgestimmt“ kritisiert haben. Auf Twitter trendete daraufhin der Hashtag #DankeWieler, unter dem viele Nutzer dort – unter anderem auch viele aus dem Medizin- und Wissenschaftsbetrieb – sich hinter die RKI-Empfehlung stellten.

In einigen Kommentaren ist der eher schwache MPK-Maßnahmenkatalog gegen Omikron vor allem auf die Rücksichtnahme auf die FDP in der Ampelkoalition zurückgeführt worden. Deren Chef Christian Lindner hatte erst vor 2 Tagen nochmals betont, dass es auch mit der Omikron-Variante Ziel der FDP bleibe, einen Lockdown zu verhindern.

Wieler: „Vollkommen irrelevant, ob ich damit zufrieden bin“

Bei der aktuellen Bundes-Pressekonferenz waren Wieler und Lauterbach trotz bohrender Nachfragen von Journalisten sichtlich bemüht, die divergierenden Ansichten nicht zu deutlich anzusprechen. Lauterbach betonte, er schätze den „wissenschaftlichen Input“ der Experten. Der Rest seien „Interna“. Es werde hier „ein Graben aufgetan, der nicht existiert“.

Wieler unterstrich, dass sowohl der Expertenrat als auch sein Institut nur wissenschaftliche Expertise liefern, die daraus resultierenden Maßnahmen aber eine Entscheidung der Politiker seien. Auf wiederholte Nachfragen, was er persönlich von den Maßnahmen halte, reagierte er eher unwirsch: „Ob ich damit zufrieden oder unzufrieden bin, ist vollkommen irrelevant.“

Infektionszahlen über Festtage geben unvollständige Bild

Der RKI-Chef erinnerte in seinem Statement daran, dass während der Feiertage die „epidemiologische Lage nur unvollständig abgebildet“ werde. Es gebe während dieser Zeit einfach weniger Meldungen. Das heißt: Auch bei vielleicht sinkenden Zahlen sei auf keinen Fall von einer Entspannung auszugehen.

Er betonte nochmals die wichtige Rolle von Kontaktbeschränkungen und appellierte an die Verantwortung des Einzelnen. „Die Kliniken und Intensivstationen sind immer noch am Limit“, sagte Wieler. Nach wie vor würden Operationen verschoben und rund 2.000 Menschen stürben jede Woche an den Folgen von COVID-19. 

Stand heute seien dem RKI 540 gesicherte Infektionen mit Omikron und 1.848 Verdachtsfälle gemeldet worden. Doch seien diese Daten rund 1-2 Wochen alt. Die Omikron-Infektionswelle entfalte bei einer Verdopplungszeit von etwa 3 Tagen in Deutschland eine „bislang nicht gesehene Dynamik“. Es sei davon auszugehen, dass „in spätestens 3 Wochen“ es sich bei der Mehrzahl der Infektionen um solche mit dieser Variante handele.

„Und wir wissen bislang nicht, wie schwer diese Erkrankungen tatsächlich verlaufen“, warnte der RKI-Chef. Er erwarte, dass sich die Situation „in Kürze“ verschärfe. Es sei dann auch mit Beeinträchtigungen in kritischen Versorgungsstrukturen zu rechnen.

Lauterbach und Gassen zeigen sich zuversichtlich

Lauterbach zeigte sich zuversichtlich, dass es mit den nun beschlossenen Maßnahmen gelinge, die Omikron-Welle in den Griff zu bekommen. Diese Zuversicht teilt auch KV-Chef Dr. Andreas Gassen, der ebenfalls an der Bundes-Pressekonferenz teilnahm. Die Impfziele der Bundesregierung hält er für realisierbar. Derzeit fänden in Deutschland „so viele Impfungen wie noch nie“ statt – 2 von 3 davon in den Praxen von Niedergelassenen. Er dankte den Kollegen explizit für diesen Einsatz – „wir sind weit über dem EU-Schnitt“.

 
Für weitere Schritte gibt es keine roten Linien. Aber jetzt wurde das Richtige getan! Karl Lauterbach
 

Derzeit ist geplant, dass sich die MPK am 7. Januar wieder trifft. Sollten die Zahlen rascher steigen, vielleicht auch früher. „Für weitere Schritte gibt es keine roten Linien“, räumte Lauterbach ein und weiter: „Aber jetzt wurde das Richtige getan!“ Auch gehe er davon aus, dass möglicherweise in der Zukunft eine weitere 4. Impfung – dann vielleicht mit einem an Omikron angepassten Impfstoff – nötig sein werde. Die dafür notwendige Vakzine sei bereits vorbestellt.

 

Kommentar

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