Die Anfallshäufigkeit von 10 Kindern mit schwer behandelbaren Epilepsien reduzierte sich um durchschnittlich 86%, wenn sie Cannabis-Extrakte zur Behandlung erhielten. Auch die Zahl der benötigten Antiepileptika ließ sich deutlich verringern. Das berichten Dr. Rayyan Zafar und weitere Londoner Wissenschaftler in einer retrospektiven Fallserie in BMJ Pediatrics Open [1].
„Diese Studie ist sehr schlecht beschrieben, sie liefert wenig Angaben, was die Kinder für Vorbehandlungen hatten, oder welche Medikamente in welcher Dosierung sie bekamen“, kritisiert der Freiburger Neurologe und Leiter des Epilepsiezentrums der Universität, Prof. Dr. Andreas Schulze-Bonhage.
Auch andere wichtige Details wie die genaue Dosierung der Cannabis-Extrakte vermisst dem Wissenschaftler. „Normalerweise berechnet man die Dosis in mg/kg Körpergewicht, es fehlen aber Angaben zum Körpergewicht, man kann die Dosierung deshalb nicht einschätzen. Es fehlt auch der Zeitraum der Behandlung, in dem die Besserung eintrat, unmittelbar oder nach einem Monat, nach einem Jahr.” So ließen sich auch die Ergebnisse kaum einschätzen, sagt Schulze-Bonhage.
Zafar und Kollegen hatten Eltern in Interviews zur Cannabis-Behandlung ihrer Kinder befragt, um die Datenlage zu solchen Behandlungen zu verbessern. Die Kinder waren im Alter von 1 bis 13 Jahren und hatten vor Beginn der Cannabis-Behandlung teilweise über 1.000 Anfälle pro Monat. Sie litten unter verschiedenen Formen von Epilepsie, und waren alle bereits erfolglos mit einer Reihe von Antiepileptika oder auch ketogener Diät behandelt worden.
Extrakt oder einzelne Cannabinoide?
Auch in Deutschland könne unter bestimmten Umständen im Rahmen von individuellen Behandlungsversuchen eine Epilepsie mit Cannabis therapiert werden, erklärt Schulze-Bonhage. Wissenschaftliche Daten dazu seien allerdings rar.
Nur ein Cannabinoid sei bisher für die Behandlung einzelner Epilepsieformen zugelassen. Die meisten Ärzte würden daher wegen der besseren Datenlage dieses CBD(Cannabidiol)-Produkt Epidyolex verwenden, oder zusätzlich auf THC(Tetra-Hydro-Cannabinol)-haltige Medikamente zurückgreifen, ist Schulze-Bonhages Einschätzung.
Denn bei Präparaten, wie sie in der Fallserie zum Einsatz kamen, sieht Schulze-Bonhage diverse Probleme: „Im Vollextrakt sind viele Bestandteile, das heißt man hat eine sehr unkontrollierte Situation. Nehmen wir an, Sie haben eine erfolgreiche Therapie, dann würden Sie die ja gerne unverändert weiterführen, aber wenn Sie den nächsten Extrakt kaufen, dann kann die Zusammensetzung anders sein.”
In Vollextrakten sind neben den mengenmäßig meist standardisierten Inhaltsstoffen THC und CBD zahlreiche weitere Cannabinoide und andere Naturstoffe enthalten.
Zafar und seine Koautoren halten allerdings gerade auch die weiteren Inhaltsstoffe neben CBD und THC für wichtig für die Gesamtwirkung. Ihre Daten würden darauf hinweisen, dass der Vollextrakt bei Patienten der Fallserie einem isolierten Cannabinoid wie CBD überlegen sei, schreiben sie. Denn 2 der 10 Kinder seien bereits erfolglos mit dem CBD-Produkt Epidyolex® behandelt worden. Ein Cannabisextrakt habe hingegen auch bei diesen Kindern gewirkt.
Cannabis bei Kindern umstritten
Die Autoren erkennen aber auch an, dass es medizinische Vorbehalte gegen die Behandlung von Kindern mit Cannabis gibt. Auch Schulze-Bonhage merkt das an: „Man weiß, dass THC sich auf die Reifung des Gehirns negativ auswirken kann. Das ist ein Grund, weshalb man bei Kindern mit der Verordnung von THC sehr zurückhaltend ist.”
Der Freiburger Spezialist ist allerdings der Meinung, dass man solche Vorbehalte bei Kindern mit schweren Epilepsien, die auf andere Behandlungen nicht ansprechen, differenziert betrachten muss: etwa deshalb, weil eine deutliche Verringerung der Anfälle sich wiederum positiv auf die kognitive Entwicklung auswirkt.
Cannabinoide können eine antikonvulsive Wirkung entfalten. Zusätzlich sind Wechselwirkungen mit klassischen Antiepileptika bekannt. Auch dazu hätte sich Schulze-Bonhage in der Fallserie mehr Details gewünscht. „Es gibt keine Informationen, was für Co-Medikationen gegeben wurden in Form von Standard-Antiepileptika. Das beeinflusst sehr stark die Effektivität dieser zusätzlichen Gabe von Cannabis, weil es da Interaktionen gibt zwischen Cannabinoiden und Antiepileptika.”
Insgesamt ist der Experte durchaus von der Wirksamkeit der Cannabinoide überzeugt. Um abschätzen zu können, bei wem sie jeweils wirken und wie sie eingesetzt werden müssen, bräuchte man allerdings noch bessere Studien. Denn dass die Mittel, wie in der vorgestellten Fallserie, bei allen Betroffenen deutliche Wirkung zeigen, sei in der Realität nicht zu erwarten, sagt der Neurologe. Das Problem sei allerdings auch die Finanzierung solcher Studien, gibt er zu bedenken.
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Diesen Artikel so zitieren: Cannabis-Extrakte für Kinder mit Epilepsie: Häufigkeit von Anfällen sinkt extrem – doch etliche Fragen bleiben ungeklärt - Medscape - 20. Dez 2021.
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