Transkript des Videos von PD Dr. Georgia Schilling:
Sehr geehrte Damen und Herren,
mein Name ist Georgia Schilling, ich bin leitende Oberärztin im Asklepios-Tumorzentrum in Hamburg und ich bin auch Chefärztin der internistisch-onkologischen Rehabilitation in der Asklepios-Nordsee-Klinik in Westerland auf Sylt.
Deshalb beschäftige ich mich sehr häufig mit Langzeit-Nebenwirkungen von Therapien und Krebserkrankungen.
Fatigue ist durch Long-COVID derzeit in aller Munde, was uns in der Onkologie sehr viel weiterbringen wird. Nun bin ich auf einen am 21.Januar 1922 online publizierten Artikel im Journal of Clinical Oncology von Dr. Antonio Di Meglio, Gustave Roussy, Universität von Paris, gestoßen. Es geht um die Entwicklung und Validierung eines prädiktiven Modells für die Entwicklung von schwerer Fatigue-Symptomatik nach einer Brustkrebs-Erkrankung.
Fatigue: Belastendes Symptom bei Krebs-Patienten
Fatigue gehört bei Krebs-Patienten zu den gefürchtetsten und sehr belastenden Langzeitfolgen der Erkrankung. Das hat sich im Laufe der Jahre verschoben. Früher waren es Übelkeit und Erbrechen, jetzt ist es Fatigue. Wir wissen, dass mehr als 30% der Frauen auch noch 10 Jahre nach einer Brustkrebs-Erkrankung anhaltende Fatigue-Symptomatik in alltagsrelevanter Form aufweisen können.
Fatigue hat zahlreiche psychische, psychosoziale aber auch sozioökonomische Folgen, man denke nur an die Rückkehr ins Berufsleben. Sie hat natürlich bei den Betroffenen extrem negative Auswirkungen auf die Lebensqualität.
Trotzdem wird Fatigue in der Onkologie selten proaktiv angegangen. Es gibt kein Tool, um Fatigue vorherzusagen. Fatigue ist unteradressiert im Screening und in der Nachsorge. Die Strategien zum Umgang mit Fatigue, die wir unseren Patienten an die Hand geben können, sind nicht ausgereift.
Risikofaktoren für schwere Fatigue
Die Studie, die ich Ihnen heute vorstellen möchte, hatte zum Ziel, Patientinnen zu identifizieren, die ein erhöhtes Risiko für Fatigue haben und auch schwere und anhaltende Fatigue 2 Jahre nach der Erstdiagnose eines frühen Mammakarzinoms hatten.
Titel der Studie ist „Entwicklung und Validierung eines prädiktiven Modells für die Entwicklung von schwerer Fatigue nach einer Brustkrebserkrankung“.
Zur Studie: Untersucht wurden Patientinnen mit einem Mammakarzinom im Stadium II bis III aus der CANTO-Kohorte, der Prospective Multicenter CANcer Toxicity Cohort. Die Daten wurden prospektiv longitudinal vor Therapiebeginn und 1 (T1), 2 (T2) und 4 Jahre (T3) nach der Diagnose erhoben.
Haupt-Outcome war die schwere globale Fatigue nach 2 Jahren, erhoben mit dem European Organisation for Research and Treatment of Cancer (EORTC) Quality of Life Questionnaire-C30. Sekundäre Endpunkte waren physische, kognitive und emotionale Fatigue, ermittelt mit dem EORTC Quality of Life Questionnaire-FA12.
Ergebnisse
1 Jahr nach Erstdiagnose litten von 5.640 Patientinnen 35,6% an schwerer Fatigue. Nach 2 Jahren waren es noch 34% und nach 4 Jahren waren es immer noch 31,5%. Das heißt, 1 von 3 Frauen war auch über einen längeren Verlauf von schwerer Fatigue betroffen.
Die Arbeitsgruppe hat zum Zeitpunkt T2 folgende Risikofaktoren für schwere Fatigue ermittelt:
vor der Therapie bestehende Fatigue,
jüngeres Lebensalter,
Prämenopausen-Status,
erhöhter BMI,
aktiver Raucherstatus,
Ängste,
Schlaflosigkeit und
Schmerzen zum Zeitpunkt der Erstdiagnose.
Zum Zeitpunkt T3 sah es anders aus, Hauptrisikofaktor war eine Hormontherapie. Das finde ich sehr interessant. Wir wissen, dass unter der Hormontherapie viele Symptome, die nach der Chemotherapie noch bestanden haben, nur erschwert rückgängig sind, dies scheint auch bei der Fatigue so zu sein.
22% bzw. 18% der Frauen sind nach 2 bzw. nach 4 Jahren nicht mehr an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt. Dabei spielt natürlich die Fatigue auch eine entsprechende Rolle. Das ist ein ziemlich hoher Prozentsatz, auch in der erwerbstätigen Altersklasse.
Die Autoren schlagen daher ein prädiktives Modell vor, um das Risiko für die Entwicklung einer schweren Fatigue schon zum Zeitpunkt der Erstdiagnose zu erfassen, um also prädiktiv zu erkennen, welche Frau eine schwere Fatigue entwickeln könnte.
Es soll eine Hilfe für die betreuenden Ärzte sein, dass zeitgerecht Interventionen angeboten werden, dass modifizierbare Risikofaktoren angegangen werden. Das Ganze soll in ein Framework eingebettet werden mit einem zugeschnittenen Monitoring und Edukationsprogramm für die hauptsächlich betroffenen Frauen, die ein erhöhtes Risiko für eine schwere chronische Fatigue haben.
Das Modell beinhaltet zahlreiche modifizierbare Verhaltensfaktoren und Komorbiditäten, z. B. BMI, Raucherstatus, Schmerzsymptomatik, Schlafstörungen. Diese kann man individuell behandeln, und dadurch lässt sich die Entwicklung einer schweren Fatigue vermeiden.
Das Ganze soll natürlich die Wahrnehmung der Behandler für den Symptomenkomplex Fatigue schärfen.
Schlussfolgerungen
Die Autoren schlussfolgern, dass zukünftig Anstrengungen dahin gehen sollen, dass wir adaptive Modelle entwickeln, um ein dynamisches Risiko-Assessment zu gewährleisten. Natürlich brauchen wir insgesamt mehr Wissen über Fatigue, bessere Screening-Methoden und ein Risiko-Assessment sowie ein risikoadaptiertes Vorgehen und Management.
Ich glaube, dass uns die COVID-Pandemie hier tatsächlich zu Gute kommt, also eine positive Seite für uns als Behandler hat. Wir müssen uns jetzt schlagartig mit einer großen Menge an Fatigue-Patienten beschäftigen, das wird die Fatigue-Forschung auch bei anderen Entitäten wie Tumorerkrankungen vorantreiben.
Da mache ich mir große Hoffnungen im Sinne unserer Patienten, dass wir hier bald ein besseres Screening und Interventionsmanagement anbieten können.
Damit ganz herzlichen Dank fürs Zuhören.
Tschüss.
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Diesen Artikel so zitieren: Schwere Fatigue – Onkologen lernen von Long-COVID: Jede 3. Brustkrebspatientin leidet lange darunter. Studie untersucht, wer gefährdet ist - Medscape - 7. Feb 2022.
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