Notaufnahme-Orakel: Ein Algorithmus kann helfen, Behandlungsdauer und Mortalitätsrisiko von Patienten abzuschätzen

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

15. Dezember 2021

Lässt sich bereits in der Notaufnahme die stationäre Behandlungsdauer und die Mortalitätswahrscheinlichkeit von Patienten, die auf Intensivstation verlegt werden müssen, abschätzen? Auf dem Kongress der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) stellte Jonas Bienzeisler vom Institut der Medizinischen Informatik der Uniklinik Aachen erste Zwischenergebnisse der AKTIN-FORECAST-LOSt-Studie vor [1].

Die auf Daten des AKTIN-Notaufnahmeregisters basierenden Ergebnisse zeigen: Prognosen zur Mortalität von Patienten, die von der Notaufnahme auf die Intensivstation verlegt werden, erreichen mit einer AUC von 0,92 schon „eine relativ gute Genauigkeit“, sagte Bienzeisler und fügte hinzu: „Nicht nur COVID-19-Patienten, alle Patienten in der Notaufnahme konkurrieren um die gleichen Ressourcen.“ Ziel der Studie ist deshalb, prototypisch die Auslastung der Versorgungskapazität von Krankenhäusern vorhersagen zu können. Gelingt das, könnten Kliniken ihre Ressourcen besser steuern.

Allerdings existieren bereits Modelle zur Ressourcen-Vorhersage in einzelnen Bereichen – beispielweise für das Kapazitätsmanagement der Nachfrage in Echtzeit und für die Menge der entlassenen Patienten, die auf Regressionsanalysen oder maschinellem Lernen basieren, berichtete Bienzeisler.

Auf Individualebene gibt es Prognosen meist für spezifische Kohorten oder Subgruppen, z.B. zur Wahrscheinlichkeit von Patienten mit COVID-19 ein Nierenversagen zu entwickeln. „Das sind aber meist sehr individuelle Lösungen, es ist schwer, die Ergebnisse zu reproduzieren“, schränkte Bienzeisler ein.

Konzept der ACTIN-FORECAST-LOSt-Studie

Der im Rahmen der AKTIN-FORECAST-LOSt-Studie entstehende Prototyp soll hingegen nicht nur einzelne Aspekte aufgreifen. Als Datenquelle dient das AKTIN-Notaufnahmeregister, das eine dezentrale Datenhaltung ermöglicht. Jede der 49 bislang beteiligten Notaufnahmen hat dazu in ihrer Klinik ein Datawarehouse (DWHs) eingerichtet. In einer optimierten Datenbank werden die Routinedaten gespeichert und können zentral angefragt werden. Der erhobene Datensatz ist das DIVI Notaufnahmeprotokoll Version 2015.1 (abhängige Variablen) und die Abrechnungsdaten gem. §21 KHEntgG (unabhängige Variablen). „Tagesaktuell stehen uns im Moment die Daten von 36 Notaufnahmen zur Verfügung“, berichtete Bienzeisler.

Für den Prototypen analysieren die Forscher die Daten über einen doppelten methodischen Ansatz. Während die Medizininformatiker in Aachen ausschließlich maschinelles Lernen einsetzen, baut die Arbeitsgruppe in Oldenburg auf Methoden der klassischen Statistik, setzt Imputationsverfahren ein und trifft die Prognosen dann anhand von Regressionsmodellen.

„Wir wollen verschiedene Methoden vergleichen: Wie schlagen sich maschinelle Lernmodelle im Vergleich zu Verfahren der klassischen Statistik? Unser Ziel ist die Entwicklung eines robusten Modells, also ein simpler Prototyp mit praktischem Nutzen“, so Bienzeisler. Die Modelle verwenden dazu Daten der Notaufnahme – Aufnahme, Behandlung (Diagnosen, Prozesszeiten, CEDIS, Vitalparameter, Verlegung, Entlassung) – und aus den Abrechnungsdaten: Intensivbehandlung, Aufenthaltsdauer, Beatmungszeit, Mortalität, Diagnosen.

Bei der Prognose der Behandlungsdauer ist noch Luft nach oben

Die Wissenschaftler haben allerdings keinen direkten Zugriff auf die Rohdaten, sondern einen Remotezugriff auf faktisch anonymisierte Rohdaten. Ausgewertet haben Bienzeisler und Kollegen bis dato 31.943 Fälle aus der Aachener Uniklinik zwischen Januar 2019 und Juni 2021.

Verwendet wurde ein Random-Forest-Algorithmus. Solche Algorithmen werden eingesetzt, um große Datenmengen mit vielen Klassen, Merkmalen und Trainingsdaten zu verarbeiten. Die NA-Daten aus Aachen wurden in einen Trainings- und einen Validierungsdatensatz gesplittet. Aus dem Trainingsdatensatz wurde das Modell aufgebaut und dann mit dem Validierungsdatensatz getestet.

Erste Zwischenergebnisse – noch ohne klinische Relevanz – ergaben für die Prognose der Mortalität (nach Verlegung aus der NA auf die Intensivstation) eine Genauigkeit von 0,92 AUC. Weniger zuverlässig war die prognostische Genauigkeit für die Dauer des Krankenhausaufenthalts (länger als 48 Stunden) – die AUC lag dazu bei 0,72. Die prognostische Genauigkeit nimmt zu, je genauer und vollständiger die zugrundeliegenden Daten erhoben werden.

Modell könnte Prozesse in der Notaufnahme deutlich vereinfachen

Bienzeisler betonte, dass es sich bei der Studie um „Work in Progress“ handele. Mit den Daten von 4 Notaufnahmen will die Aachener Arbeitsgruppe jetzt die Liegezeit, die Zeit auf Intensivstation und die Beatmungszeit wesentlich genauer prognostizieren. Die Ergebnisse sollen dann mit den Modellen der Oldenburger Arbeitsgruppe verglichen werden. „Mit einem hohen Aufwand an technischen und organisatorischen Schutzmaßnahmen können wir diese Daten für unsere Algorithmen verfügbar machen. Die ersten Ansätze zu verteiltem Rechnen zeigen, dass es grundsätzlich möglich ist, brauchbare Ergebnisse zu liefern“, sagte Bienzeisler.  Nun gehe es darum, die Modelle zu verbessern.

 
Wenn es jetzt gelingt, das Ganze noch weiter nach vorne zu verlagern, so dass wir auch mit dem Workflow drauf reagieren können, wäre das ein wunderbares Arbeitsinstrument. Prof. Dr. Harald Dormann
 

„Dass es Prognosemodelle gibt, die uns eine Abschätzung erlauben ist erfreulich”, kommentierte Prof. Dr. Harald Dormann, Leiter der Zentralen Notaufnahme am Klinikum Fürth. Die Frage werde nur sein, „ob sie sich in einem Zeitintervall erstellen lassen, in dem wir noch reagieren können“. Das ist aus Dormanns Sicht die Herausforderung. „Wenn es jetzt gelingt, das Ganze noch weiter nach vorne zu verlagern, so dass wir auch mit dem Workflow drauf reagieren können, wäre das ein wunderbares Arbeitsinstrument.“

Das hob auch Prof. Dr. Anna Slagmann hervor: Je früher man Risikoabschätzung vielleicht auch schon in die NA-Aufnahme integrieren könne, desto besser lasse sich das in den Verlauf und in die Behandlung des Patienten integrieren. „Desto reibungsloser funktioniert der Abfluss oder die Weiterverlegung aus der Notaufnahme. Ein solches Modell könnte die Prozesse deutlich einfacher machen – wenn es denn funktioniert.“

 

Kommentar

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