MEINUNG

„Die Bevölkerung versteht die Corona-Zahlen nicht“ – Politik-Kommunikation in der Pandemie, wie sie besser gelingen könnte

Christian Beneker

Interessenkonflikte

15. Dezember 2021

Dr. Sebastian Jäckle

Einfach ist es nicht, die immer neuen Zahlen zur Corona-Pandemie richtig einzuordnen. Das liegt zum einen an der Politik, die es oft nicht schafft, ihre Botschaften korrekt rüberzubringen. Zum anderen liegt es aber auch an der Bevölkerung, die die Bedeutung etwa des „exponentiellen Wachstums“ nicht versteht. Medscape sprach mit dem Freiburger Statistiker und Politologen Dr. Sebastian Jäckle. Er hat den Zusammenhang mit einer Studie untersucht.

Medscape : Herr Dr. Jäckle, sie sind Politikwissenschaftler, und Sie sind unzufrieden damit, wie in der Pandemie von Politikern und Medien die Zahlen kommuniziert werden. Besonders, wenn es um das exponentielle Wachstum geht, verstehe die Bevölkerung nur „Bahnhof“. Das haben Sie jetzt sogar in einem Experiment nachgewiesen.

Jäckle: Eigentlich sind US-amerikanische Kollegen darauf gekommen, zu Beginn der Pandemie genauer zu untersuchen, wie weit die Bevölkerung exponentielles Wachstum überhaupt versteht. Wir haben deren Experiment repliziert [1]. Ein angemessenes Verständnis von exponentiellem Wachstum wäre ja wünschenswert, weil im Zusammenhang mit der Pandemie-Entwicklung in der politischen Kommunikation stets davon die Rede ist, man müsse „die Welle brechen“, weil sie „exponentiell“ anschwelle.

„Nicht ein einziger war in der Lage, das Wachstum richtig zu verstehen!“

Medscape : Und was haben Sie herausgefunden?

Jäckle: Selbst Erstsemester, die gerade aus dem Abitur kommen und ihren Mathematikunterricht noch nicht so lange hinter sich hatten, versagten bei der Berechnung eines exponentiellen Wachstums. Nicht ein einziger war in der Lage, das Wachstum richtig zu verstehen. Damit lagen sie auf dem gleichen Niveau wie die US-amerikanischen Probanden.

Das hatten wir nicht vermutet. Denn die Amerikaner hatten ihren Probanden Geld für die Teilnahme gezahlt. Damit griffen sie auf Leute zurück, die vielleicht nicht zu den Gebildetsten gehörten. Zudem lief unsere Studie erst im November 2020, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Begrifflichkeit „exponentielles Wachstum“ im Zusammenhang mit der Pandemie als Allgemeinwissen vorausgesetzt werden konnte. Dieses theoretische Wissen führte aber offensichtlich nicht zu einem besseren Verständnis der Infektionsdynamik.

Medscape : Wie war Ihr Experiment aufgebaut?

Jäckle: Wir haben eine vermeintlich einfache Schätzaufgabe gestellt, etwa wie diese: Wenn gestern genau 1.000 Menschen mit Corona infiziert waren und es heute genau 2.000 sind – wie viele, schätzen Sie, sind es dann von heute ab in 10 Tagen? Die richtige Antwort bei dem unterliegenden exponentiellen Wachstumsprozess hätte gelautet: 1.024.000.

Aber niemand ist darauf gekommen, die Summen Tag für Tag schlicht zu verdoppeln. Stattdessen haben die Probanden intuitiv zumeist ein lineares Wachstum angenommen, das heißt, sie haben damit gerechnet, dass an jedem Tag 1.000 Infizierte hinzukommen. Mit dieser Rechnung sind sie auf 12.000 Infizierte nach 10 Tagen gekommen – ein falsches Ergebnis.

Medscape : Seltsam, die Berechnung des exponentiellen Wachstums ist doch kein Hexenwerk.

Jäckle: Ja, aber das Problem scheint zu sein, sich die gewaltigen Zahlen überhaupt vorzustellen, auf die man kommt, wenn man das exponentielle Wachstum berechnet. Und daran scheitert offenbar das menschliche Gehirn oft. Vor allem, wenn die Infizierten-Zahlen im Laufe kurzer Zeit durch die Decke schießen.

Es geht um politische Kommunikation

Medscape : Die korrekte Berechnung des exponentiellen Wachstums interessiert Sie auch als Politikwissenschaftler?

Jäckle: Mir geht es um politische und mediale Kommunikation. Wir haben nämlich in unserem Experiment mit 2 Gruppen gearbeitet: Gruppe 1 hat einfach die Schätzaufgabe bekommen, und Gruppe 2 hat zusätzlich eine kleine Hilfestellung erhalten: eine Hilfe bei den Rechenschritten.

Tatsächlich hat sich die unterstützte Gruppe leichter getan und die korrekten Ergebnisse geliefert. Das bedeutet für die politische Kommunikation, dass zum Beispiel nicht nur die neuesten Höchststände der Infizierten-Zahlen genannt werden, sondern auch eine Einschätzung des exponentiell wachsenden Infektionsgeschehens, etwa so: „Wenn sich die Zahlen so weiterentwickeln, dann haben wir in einer Woche …“. Das dürfte Folgen haben.

Denn in unserem Experiment hat sich gezeigt: Die Gruppe, die eine Hilfestellung erhalten hatte, konnte nicht nur das Infektionsgeschehen besser abschätzen, sondern war am Ende zum Beispiel Kontaktbeschränkungen gegenüber aufgeschlossener, weil sie von der Infektionsgefahr ein realistischeres Bild hatten.

Medscape : Glauben Sie, dass die Bevölkerung es durch solche einfachen Tricks wirklich leichter hat, so unglaublich schnell sich entwickelnde Zahlen einzuordnen?

Jäckle: Der Umgang mit exponentiellen Steigerungsraten ist kein Orchideenfach und nicht so unwichtig, wie es vielleicht scheint. Die Rechnung gilt auch, wenn es um die Verbreitung viraler Inhalte in sozialen Netzwerken geht oder um die Beschreibung nuklearer Kettenreaktionen. Das Thema umgibt uns! Schon die altindische Erzählung von den Reiskörnern auf dem Schachbrett zeigt, welche enormen Massen in diesem Fall bei exponentiellem Wachstum entstehen können.

Medscape : Die Kommunikation der Pandemiezahlen wird ja nicht nur durch das Unverständnis exponentieller Steigerung verwischt.

Jäckle: Das stimmt. Oft wird „der Wissenschaft“ vorgeworfen, sie wisse auch nicht genau Bescheid. Und das ist natürlich auch wahr, denn Modelle können niemals eine perfekte Vorhersage liefern, da es sich bei ihnen eben um Abstraktionen der Wirklichkeit handelt. Alle wissenschaftliche Simulationen und Hochrechnungen enthalten immer eine gewisse Unsicherheit. Das ist aber gar nichts Schlechtes! Denn die Wissenschaft kann gut berechnen, wie hoch diese Unsicherheit ist. Und eine solche mit einem Sicherheitsbereich angegebene Schätzung ist eben etwas fundamental anderes, als einfach ins Blaue hinein zu raten. 

Verstehen die Politiker, was sie erklären?

Medscape : Verstehen am Ende die Politiker selbst nicht genau, wie die Wissenschaft arbeitet und was exponentielles Wachstum ist und bedeutet?

Jäckle: Ich habe es nur einmal erlebt, dass von Seiten der Politik das exponentielle Anwachsen der Infizierten-Zahlen ähnlich anschaulich vermittelt wurde, wie wir es in unserem Experiment mit der kleinen Hilfestellung getan haben. Und zwar durch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie hat Ende September 2020 vor laufender Kamera das exponentielle Anwachsen der Infizierten-Zahlen in einzelnen Schritten für jeden Monat hochgerechnet und kam so auf eine Schätzung von ca. 19.000 Neuinfektionen täglich für Weihnachten. Wegen dieser vermeintlich viel zu hoch gegriffenen Zahlen, die der Bevölkerung nur unnötig Angst machen würden, gab es damals ein riesiges Medienecho. Zu Weihnachten hat sich dann herausgestellt, dass Merkel noch zu konservativ gerechnet hatte.

 

Kommentar

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