Es könnte so einfach sein: „Wenn wir einen Kühlschrank kaufen wollen, gucken wir doch auch hinein und sehen nach, ob er sein Geld wert ist“, sagte Prof. Dr. Jürgen Windeler, Vorsitzender des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) auf dem IQWiG-Symposium 2021, um auf das Thema des Symposiums einzustimmen: „Kommerzialisierung im Gesundheitswesen – Zeit für Kosten-Nutzen-Bewertungen?“ [1].
Was für Kühlschränke gelte, gelte offenbar nicht für Gesundheitsleistungen, meinte Windeler. „Wir gucken zu wenig, was wir für den Aufwand eigentlich bekommen. Warum tun wir es nicht?“
Private-Equity-Gesellschaften auf dem Gesundheitsmarkt
„Wieviel Markt verträgt das Gesundheitssystem?“, fragte der Münchner Medizinethiker Prof. Dr. Georg Marckmann in seinem Vortrag. Er stellte diese Frage vor allem in Hinblick auf die Private-Equity-Gesellschaften auf dem deutschen Gesundheitsmarkt. „Sie sammeln ihr Geld in Fonds, haben ihren Sitz oft außerhalb der Länder, in denen sie investieren und sind vor allem auf Rendite aus“, so Marckmann, „und zwar auf viel Rendite in kurzer Zeit. Sie versuchen, die Wirtschaftlichkeit der gekauften Unternehmen zu steigern, und sie nach 5 Jahren wieder zu verkaufen.“ An der medizinischen oder pflegerischen Versorgung haben sie kaum Interesse, betonte er.
Besonders beliebt sind Unternehmen aus der Gesundheitsbranche. Nach Zahlen der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2017 kauften Private-Equity-Gesellschaften in Deutschland 274 Firmen für 24,5 Milliarden Euro. Die am stärksten vertretenen Branchen waren die Software-Industrie und der Gesundheitsbereich mit einem Anteil von je 15,3%.
Gegen eine Ökonomisierung des Gesundheitssystems hat Marckmann nichts. Man könne sich bei den Private-Equity-Gesellschaften sogar einiges abschauen – wie man effizienter arbeitet oder eine Einrichtung professionell managt. Wohl aber sei die Kommerzialisierung im Gesundheitswesen, wie sie sich oft bei den Private-Equity-Gesellschaften zeigt, kritisch zu sehen, machte er deutlich.
Zwar vertrage das Gesundheitssystem durchaus Marktelemente, aber nur dort, wo sie eine regional abgestimmte, bedarfsorientierte, patientenzentrierte Versorgung ermöglichten und wo ein funktionierender Preis- und Qualitätswettbewerb realisiert werden könne.
Deutschland tut sich schwer mit der Kosten-Nutzen-Bewertung
Müssten in den Gesundheitsmarkt nicht feste Schwellenwerte eingezogen werden, um den Geldbeutel der Kunden zu schonen? In keinem Land der Welt gebe es eine feste Schwelle, ab der Gesundheitsleistungen nicht mehr gezahlt werden, erläuterte Prof. Dr. Wolfgang Greiner, Lehrstuhlinhaber für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement der Universität Bielefeld, in seinem Vortrag.
„Schwellenwerte gelten manchmal als hinderlich, weil sie so wirken, als wäre da die Welt zu Ende, aber das ist nicht der Fall. Ab dem Schwellenwert muss einfach nur genauer reflektiert und begründet werden, warum etwas gezahlt wird“, sagte Greiner. Zum Beispiel dann, wenn ein Arzneimittel, dessen Preis über einem Schwellenwert liegt, trotzdem zu Gunsten von Kindern oder von Patienten mit besonders seltenen Erkrankungen erstattet wird.
Zurück zur Kosten-Nutzen-Bewertung – gerade in Deutschland ein heikles Thema, erklärte Norbert Schmacke vom Bremer Institut für Public Health und Pflegeforschung. Warum?
Schmacke verwies auf die Forschungen des Internisten Paul Martini, der sich ab den 1930er-Jahren für die therapeutische Wirkungsforschung interessierte. Zur Therapie der Ruhr schrieb Martini 1939: „Der eine Arzt verordnet Kohle, ein anderer Bolus alba, ein dritter Tannin-Präparate, ein vierter Apfeldiät und ein fünfter Darmspülungen (…). Es wäre von größter Wichtigkeit zu wissen, welches von den gegen Ruhr wirksamen Mitteln im Durchschnitt die besten Heilungsaussichten bietet.“
In seinem Forschungsvorhaben „Vergleichende Therapie“ (VT) suchte er während des Krieges in Zusammenarbeit mit der Militärmedizin in Deutschland diese Fragen zu erforschen. Nicht nur die harsche Kritik mancher Kollegen zog Martinis Forschung in Zweifel. Sondern später auch ihre Nähe zum Nationalsozialismus, obwohl Martini gegen die Nazis eingestellt war, wie Schmacke betonte.
Wie dem auch sei: Das Anliegen des Projekts machte in der Nachkriegszeit deshalb keine Karriere. Schmacke: „Deutschland fehlt eine eigene, akzeptierte Tradition der rationalen Therapie.“
Nur Hersteller haben Überblick über Preisbildung
Dr. Sabine Vogeler, Abteilungsleiterin Pharmaökonomie bei der „Gesundheit Österreich GmbH“ wies auf die Komplexität bei den Preisfestlegungen von neuen Medikamenten hin. Dabei werden im Rahmen von Preisverhandlungen von den Herstellern Vertraulichkeitsklauseln als Gegenleistung für niedrige Preise gefordert. Das heißt, „die Länder haben nur dann die Rabatte, wenn sie über einen Preisnachlass schweigen. So sind es einzig die Hersteller, die den Überblick haben über die Preisbildung, sie gestalten können und Preisdiskriminierung üben können“, sagte Vogeler.
Dies sei vor dem Hintergrund der in vielen europäischen Ländern gängigen Preispolitik des internationalen Ausland-Preisvergleichs zu sehen, bei denen Medikamentenpreise auf Basis der Preise in anderen Ländern festgelegt werden. „Wegen der vertraulichen Rabatte muss sich ein Land am Listenpreis in anderen Ländern orientieren und kann nicht eventuell niedrigere Preise im Nachbarland heranziehen.“
Den Ländern fehle also Wissen und Evidenz, so Vogeler. Von dem Problem sind im Übrigen nicht nur ärmere Länder betroffen. Klar sei: Kein Land traue sich, allein aus dem System der vertraulichen Rabatte auszubrechen und die Abkommen mit den Herstellern abzulehnen, weil sie fürchten, von den Herstellern dann gar nicht mehr beliefert zu werden.
Aber es gibt auch Initiativen, die gegensteuern, wie die „Oslo Medicines Initiative“ der WHO-Europa und Norwegens. Sie setzt auf einen neuen „sozialen Vertrag“, basierend auf den Prinzipien von Transparenz, Nachhaltigkeit und Solidarität.
„Was die Kosten-Nutzen-Bewertung bei den Preisverhandlungen angeht, braucht es in den Preisverhandlungen künftig auf jeden Fall mehr Evidenz beim Festlegen der Erstattungspreise“, sagt Vogeler, „egal, ob dies durch eine Kosten-Nutzen-Bewertung geschieht oder mit Hilfe eines anderen Instruments.“
„Nicht alle Onkologika sind ihren Preis wert“
Das sieht auch Prof. Dr. Kerstin Noelle Vokinger von der Universität Zürich so. „Es braucht nach meiner Überzeugung einen Zusammenhang zwischen Preis und Nutzen bei Onkologika“, betonte sie. „Denn nicht alle Onkologika sind ihren Preis wert.“
Es kämen immer mehr Onkologika auf den Markt, und die Initialpreise steigen immer mehr. „Onkologika mit einem hohen Nutzen müssen deshalb priorisiert werden“, meinte Vokinger. Dazu bräuchten wir in Deutschland aber ein Werkzeug, das den Nutzen der Arzneimittel klar bestimmen und ihn in der Preisfestsetzung berücksichtigen kann. „Das würde auch Anreize schaffen, immer bessere Medikamente zu entwickeln.
Hinzu kommt, dass viele Onkologika nicht mehr auf dem Goldstandard von Endpunkten zugelassen werden, wie die Gesamtüberlebenszeit, sondern auf Basis von Surrogat-Endpunkten“, so Vokinger. Es gebe damit oft erhebliche Evidenzlücken zum Zeitpunkt der Zulassung. Indessen hätten die Länder das Problem inzwischen „erkannt“, sagte Vokinger, „aber noch nicht gelöst.“
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Diesen Artikel so zitieren: IQWiG-Diskussionen über Kosten-Nutzen-Bewertung – und Kommerzialisierung im Gesundheitswesen - Medscape - 14. Dez 2021.
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