Alleinstehende im Alter: Wie sich im Krankheitsfall ein Pflegeheim vermeiden lässt

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

8. Dezember 2021

„Angenommen, Sie brauchen in Zukunft Hilfe bei grundlegenden Tätigkeiten wie Essen oder Anziehen. Kennen Sie jemanden, der Sie über längere Zeit unterstützen wurde?“ Eine scheinbar simple Frage und doch bietet sie ein aussagekräftiges und klinisch wertvolles Messinstrument, wie US-Forscher berichten [1]. Denn die Antwort liefert einen Indikator dafür, ob alleinstehende alte Menschen nach einer schweren Erkrankung in ihrer vertrauten Umgebung Pflege erhalten oder ob sie in ein Heim aufgenommen werden müssen.

„Alleinlebende ältere Menschen, die nicht auf Unterstützung von Freunden oder Verwandten zählen können, sind sehr verletzlich. Wir beobachten das im Krankenhaus ständig“, zitiert eine Mitteilung der University of California in San Francisco den dort forschenden Studienleiter Dr. Sachin J. Shah. „Wir nehmen sie als Patienten auf, obwohl es ihnen zuhause gut gehen könnte, wenn sie nur ein wenig Hilfe hätten.“

Direkte Frage statt soziodemografischer Daten

Frühere Studien haben die Anwesenheit erwachsener Kinder, die Größe des sozialen Netzwerks und die Teilnahme an gemeinschaftlichen Aktivitäten ermittelt, wie die Autoren erläutern. „Wir haben eine direktere und einfachere Methode gewählt – eine Frage an die Menschen selbst.“

Was sie dabei allerdings herausgefunden haben, bezeichnet Shah in der Mitteilung als „beunruhigend“: Ein hoher Anteil – nämlich fast 40% – der älteren Singles kannte niemanden, der ihnen im Ernstfall beistehen würde. Im Vergleich zu Menschen mit Unterstützung waren sie etwas älter, öfter Weiße und hatten eher einen Schulabschluss. Häufiger zudem bezeichneten sie ihren Gesundheitszustand als schlecht, waren depressiv und seh- oder hörbehindert.

Dabei müssen Alleinstehende in fortgeschrittenem Alter sowieso schon mehr Krankheiten bewältigen als Gleichaltrige mit Wohnungsgenossen. Die Nachteile reichen von einer ungünstigeren Prognose bei Herzinfarkt oder Schlaganfall über eine verstärkte Anfälligkeit für Depressionen bis hin zu erhöhten Sterberaten.

Alleinleben im Alter – steigende Zahlen auch in Deutschland

Und immer mehr Menschen leben im Alter allein – in Deutschland mittlerweile rund ein Drittel der 18,3 Millionen Menschen ab 65, wie das Statistische Bundesamt meldet. Um die Jahrtausendwende waren es noch 5,1 Millionen – 14% weniger.

Dabei gilt: Je älter, um so alleinstehender, und zwar vor allem deshalb, weil die Lebensgefährten nach und nach sterben. So haben noch fast 2 Drittel der Menschen über 65 einen Partner, über 85 jedoch nur noch halb so viele.

Dennoch wohnen die meisten in ihren eigenen 4 Wänden. Nur 4% der Menschen ab 65 und selbst ab 85 Jahre nur 18% mussten in ein Seniorenheim umziehen.

„Gesundheitsschock“ wirft viele aus der Bahn

Wie Shah und Kollegen erläutern, ist soziale Unterstützung ein wichtiges Kriterium dafür, ob Pflegebedarf in einer Einrichtung nötig wird oder nicht. Doch wäre denkbar, dass die alten Menschen unter normalen Umständen gut auch ohne fürsorgliche Angehörige oder Freunde zurechtkommen.

Im Fall eines „Gesundheitsschocks“ jedoch – definiert als Klinikaufnahme, Krebsdiagnose, Herzinfarkt oder Schlaganfall – könnten sie sehr wohl auf Hilfe angewiesen sein. Darüber Bescheid zu wissen, schaffe die Möglichkeit zur Vorsorge, so stellen die Autoren ihren Ansatzpunkt dar.

Weltweit große Befragungen zum Altern

Für ihre prospektive Studie nutzten sie Daten aus der Health and Retirement Study HRS, einer bedeutenden Längsschnittstudie zum Thema Altern. Wissenschaftler der Universität Michigan befragen seit 2006 alle 2 Jahre eine repräsentative Stichprobe von fast 20.000 US-Bürgern im Alter ab 50.

Primär geht es darum, den Übergang vom Beruf in den Ruhestand zu beleuchten. Themen sind Gesundheit, Alltagsfähigkeiten und Kognition, soziale Beziehungen, ökonomischer Status und Beschäftigung.

Die Erhebung war Vorbild für Schwesterprojekte weltweit, so auch in Europa, wo in bisher 7 Wellen rund 140.000 Personen interviewt wurden (Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe, SHARE).

Die Forscher um Shah beschränkten sich allerdings auf eine HRS-Kohorte ab 65 Jahre. Die knapp 4.800 Teilnehmer – zu 2 Drittel Frauen – lebten allein, versorgten sich selbst, regelten ihre Finanzen und hielten ihre Wohnung in Ordnung. Wie viele würden sich im Verlauf von 2 Jahren längere Zeit in einem Pflegeheim aufhalten?

Anziehen, essen, duschen – gewöhnlich klappt‘s

Im Gegensatz zu früheren Analysen stellte sich nicht das Alleinleben an sich als Problem heraus. Solange sie von einem „Gesundheitsschock“ verschont blieben, brauchten Teilnehmer ohne Unterstützung die Heimpflege nicht öfter als jene, die einen Rückhalt besaßen. Weder hatten sie häufiger Schwierigkeiten mit alltäglichen Verrichtungen noch waren kognitive Defizite, Seh- und Hörbehinderung ausgeprägter. Auch bestanden zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede in der Sterblichkeit.

Anders jedoch, wenn die alten Menschen plötzlich erkrankten: Dann verbrachten rund 14% derjenigen, die nach ihren Angaben zu Studienbeginn nicht mit privater Pflege rechnen konnten, länger als einen Monat in einem Heim, dagegen nur 11% der Teilnehmer mit Unterstützung.

Ein Kollege von Shah bestätigt in der Mitteilung: „Viele ältere Menschen sind imstande, sich selbstständig um ihre Angelegenheiten zu kümmern, sie stehen am Morgen auf, essen, duschen, ziehen sich an und dosieren ihre Medikamente richtig – bis sie in eine gesundheitliche Krise geraten.“

Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Notlage ist in höherem Alter offensichtlich hoch: Fast 2 Drittel der Teilnehmer wurden damit konfrontiert.

Die meisten zieht es nach Hause

„Für einige Senioren mag ein Heim geeignet sein, aber die meisten ziehen es vor, zu Hause zu altern oder sich von einer akuten Krankheit zu erholen“, schreiben die Forscher. Zudem komme die Heimpflege sowohl die Krankenkassen als auch die Mitglieder teuer zu stehen. Eine Einweisung koste die US-Versicherung Medicare im Schnitt mindestens $10.000, der Eigenanteil beträgt gut $2.000.

 
Für einige Senioren mag ein Heim geeignet sein, aber die meisten ziehen es vor, zu Hause zu altern oder sich von einer akuten Krankheit zu erholen. Dr. Sachin J. Shah und Kollegen
 

Um die Folgen der Vereinsamung abzupuffern, seien Klinikärzte, Forscher, Patientenanwälte und Politiker gefordert. Sie sollten prüfen, welches Netz die vielen älteren Menschen, die völlig auf sich gestellt sind, auffangen könnte.

Kommunen sollten Sicherheitsnetze aufspannen

Shah und seine Kollegen schlagen vor, in den Kommunen spezielle Programme zu etablieren: Entweder werden Pflegekräfte beauftragt, hilfsbedürftige ältere Menschen in deren Wohnung zu betreuen, oder eine vertraute Person bekommt ein Gehalt, wenn sie diesen komplexen, bisher unbezahlten Dienst übernimmt.

Zum Beispiel habe eine Analyse des kalifornischen Gesetzes über bezahlten Familienurlaub gezeigt, dass nur 6 Wochen ausreichen, um Aufenthalte in Altenheimen deutlich zu reduzieren. Ebenfalls wertvoll seien nicht-finanzielle Ansätze, wie das National Family Caregiver Support Program, das Angehörigen die Kurzzeitpflege erleichtert.
 

Kommentar

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