Pflegefachkräfte-Mangel – wie sehr das Thema den betroffenen Mitarbeitern auf den Nägeln brennt, zeigten die vielen Kommentare zur Podiumsdiskussion „Situation der Intensivpflegenden“ auf dem Onlinekongress der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) [1]:
„Rente mit 67? Wie soll man 50 Jahre so arbeiten?“
„Mehr Geld ist nicht die Lösung! Die Arbeitsbedingungen müssen verbessert werden, und zwar schnell und kräftig.“
„Das Problem liegt nicht an den Verbesserungsvorschlägen – davon haben wir genügend. Das Problem liegt einzig und allein in der Umsetzung!“
Denn genau die ließ bislang ziemlich zu wünschen übrig, darin waren sich alle Diskussionsteilnehmer einig. Dabei lägen die Vorschläge längst auf dem Tisch, betonte Prof. Dr. Gernot Marx, Direktor der Intensivmedizin Klinikum Aachen und Präsident der DIVI. Gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Fachkrankenpflege und dem Pflegebeauftragten der Bundesregierung habe die DIVI verschiedenste Vorschläge zur Stärkung und Zukunft der Intensivpflege vorgelegt.
„Die letzten Monate waren etwas ernüchternd, weil nicht so richtig was passiert ist“, sagte Marx. Gefreut habe ihn allerdings, dass in den Koalitionsvereinbarungen etliche Punkte aus diesen Vorschlägen festgeschrieben wurden. „Wir haben die große Hoffnung, dass in den nächsten 4 Jahren Wesentliches passiert.“
„Kurzfristig versuchen wir gerade am Uniklinikum Leipzig, die Leute, die innerhalb einer Klinik in Stabsstellen abgewandert sind, wieder zurück an die Betten zu holen“, berichtete Sylvia Köppen, Stationsleiterin Pflege Operative Intensivmedizin UKL. Eine Notlösung, keine nachhaltige Lösung. Deshalb müsse mittel- und langfristig der Pflegeberuf deutlich aufgewertet werden: „Die Arbeitsbedingungen sollten dabei im Vordergrund stehen“, betonte Köppen.
Für eine kurzfristig machbare und notwendige Verbesserung setzte sich Prof. Dr. Karen Pottkämper, Studiengangsleiterin Erweiterte Klinische Pflege an der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin ein. Pottkämper schlug eine psychosoziale Betreuung für Studenten vor: „Viele Studenten arbeiten auch auf Station, und sie erleben jetzt in der Pandemie viel mehr Leid und Tod als sonst – das muss man verarbeiten. Eine psychosoziale Betreuung wäre auch kurzfristig möglich“, betonte Pottkämper.
Vor allem die Arbeitsbedingungen müssen sich ändern
„Wir brauchen Rahmenbedingungen, die den Kollegen ermöglichen, langfristig in diesen Bereichen zu arbeiten“, sagte Prof. Dr. Hans-Jörg Busch, Ärztlicher Leiter des Notfallzentrums der Universität Freiburg und DIVI-Kongresspräsident 2021, und schloss dabei ausdrücklich sowohl Pflegekräfte als auch Ärzte ein.
Mit Blick auf die Rahmenbedingungen hält Pottkämper eine bessere Bezahlung für wünschenswert, bessere Arbeitsbedingungen aber für entscheidend: „Den meisten Intensivpflegenden sind die Arbeitsbedingungen wichtig, sie wollen ihre Vision von guter Pflege umsetzen können. Doch das ist im Augenblick nicht möglich.“
Die festgelegten Personaluntergrenzen seien da nicht wirklich hilfreich. Fallanalysen mit Studenten zeigten, dass eine 2:1-Betreuung der Vision von guter Pflege nicht entspricht und dass eine gute Pflege mit diesem Betreuungsschlüssel evidenzbasiert auch nicht möglich ist.
Erschwerend komme hinzu, dass die Personaluntergrenzen häufig als „Soll“ genommen würden, nach dem Motto „mehr brauchen wir ja gar nicht“. Momentan lasse sich das nicht ändern, weil es nicht mehr Intensivpersonal gebe. Es wäre aber schön, wenn man Zielzahlen formulieren würde, sagte Pottkämper an die Politik gewandt.
„Kurzfristig brauchen wir das Einhalten der Pflegeuntergrenzen, die sind im Moment für viele Kollegen die letzte Verteidigungslinie“, machte Carsten Hermes deutlich, Pflegewissenschaftler und Sprecher der Sektion Pflege in der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN). „Dass in manchen Bereichen diese Sollgrenze aber tatsächlich als Maximum gesehen wird, ist fatal“, kritisierte Hermes.
Ampel: Mehr Geld, erweiterte Zuständigkeit und schnelle Digitalisierung
Es sei „kein Zufall“, dass im Koalitionsvertrag der Ampel einige Punkte aus den Vorschlägen der Fachgesellschaften aufgegriffen wurden, erklärte Prof. Dr. Karl Lauterbach und fügte hinzu: „Wir haben uns an den Wünschen orientiert.“
Er kündigte auch an, dass „sehr viel mehr passieren“ werde, „als im Koalitionsvertrag zu sehen ist“. Lauterbach nannte 3 wesentliche Aspekte:
eine deutliche Verbesserung der wirtschaftlichen Voraussetzungen: Konkret sollen die Zuschläge für Feiertagsarbeit, Überstunden und Nachtarbeit steuerfrei gestellt werden. Es sei, so Lauterbach, nicht richtig, wenn der Staat bei dieser Arbeit über Steuern mitverdienen würde, „denn es ist ja der Staat, der für zu wenig Personal verantwortlich ist“.
Geplant sei auch eine Veränderung der Zuständigkeiten von Pflegekräften in den ärztlichen Bereich hinein und
eine Entlastung bei der Dokumentationspflicht über konsequente Digitalisierung.
Lauterbach plädierte für eine konzertierte Aktion, um diejenigen, die aus dem Beruf ausgestiegen sind, wieder zurückzuholen. Das könne nur über die Aufwertung des Berufes, über Prämien und Kampagnen gelingen.
„Wir sind uns darüber im Klaren, dass es so nicht weitergehen kann. Man hätte in den letzten 12 Monaten mehr machen müssen“, räumte er ein. Lauterbach versprach, die Anregungen aus der Diskussion mitzunehmen, sein Eindruck sei, dass sich die Ampel den Herausforderungen stellen wolle.
Pflegekammern und Stärkung der Selbstverwaltung
Pottkämper, Hermes und Andreas Schäfer, Leiter der Intensivpflege am Klinikum Kassel und Sprecher der Sektion Pflege der DIVI, halten die Einrichtung einer Pflegekammer für notwendig. Deren Aufgabe sei u.a. die Umsetzung eines Qualitätsmixes – die eindeutige Zuordnung, mit welcher Qualifikation die Pflegenden arbeiten und wie sie eingesetzt werden können, so Pottkämper.
Ein ehrenamtliches Gremium wie der Pflegerat könne eine solche Arbeit nicht leisten. Hermes betonte, dass der Pflegebedarf sowohl in Quantität als auch in Qualität durch Pflegende selbst vor Ort festlegbar sein müsse. Dazu brauche es pflegesensitive Outcome-Parameter, die es bislang nicht gebe.
„Mittelfristig wird das nur durch die Selbstverwaltung der Pflege in allen Belangen möglich sein“, sagte Hermes. Sowohl Hermes als auch Pottkämper hoben die Notwendigkeit weiterer Pflegeforschung hervor.
Hermes stellte aber auch klar, dass mehr Geld allein niemanden zurückholen werde und verwies auf eigene Daten einer bundesweiten repräsentativen Umfrage: Geld und Prämien wurden darin erst an 5. Stelle genannt. „Es sind maßgeblich die Arbeitsbedingungen: ein fester klarer Patientenschlüssel, die Beachtung von Dienstplänen, die wirkliche Freizeit auch möglich machen“, berichtete Hermes.
Um Mitarbeiter zu halten, sind mehr innovative Dienstplan und Zeit-Modelle notwendig, bestätigte auch Schäfer. „Es gibt immer noch Kliniken, da arbeiten die Kollegen 12 Tage am Stück und bekommen dann 2 Tage frei – dass die weder Zeit für Familie noch Privatleben haben, ist offensichtlich. Und wer das ein paar Jahre gemacht hat, ist damit durch“, berichtete Schäfer.
Zeitarbeit: Anreiz selbstbestimmte Arbeitsbedingungen
Bis zu 50% der Schichten würden in Deutschland mit Zeitarbeitskräften besetzt, sagte Schäfer. „Hinsichtlich der Versorgung ist das nicht so optimal, als wenn ich mit 100% Stamm-Arbeitskräften arbeite.“
Hermes berichtete, dass diejenigen, die in die Zeitarbeit gehen, dies vornehmlich nicht aus finanziellen Gründen machen, sondern weil sie ihre Arbeitsbedingungen selbstbestimmen wollen. „Die haben einen festen Dienstplan und einen festen Betreuungsschlüssel. Zeit- und Leiharbeit sind keine Gefahr, wenn man sie vernünftig einsetzt und wenn man weiß, wer welche Qualifikation hat und wer welche Arbeit leisten kann“, sagte Hermes.
Zeitarbeit würde durch die Innovation attraktiv: „Einfluss nehmen zu können auf den eigenen Dienstplan bei deutlich besserer Vergütung“, bestätigte auch Schäfer. Und er erinnerte daran, dass Kliniken die deutlich teureren Zeitarbeiter bezahlen könnten. Da müsse es doch möglich sein, auch Fest-Angestellte entsprechend zu bezahlen.
„Das Land muss mittelfristig verstehen, ob wir eine Daseinsfürsorge sind oder ob wir ökonomisch nach Marktgesetzen agieren sollen. Wenn Kliniken und Pflege eine Daseinsfürsorge sind, dann müssen sie bezahlt werden – unabhängig davon. was sie leisten“, appellierte Hermes an die politisch Verantwortlichen. „Man kann das mit einer Feuerwache vergleichen: Würden die Feuerwehrleute nur noch nach Brandeinsätzen bezahlt, dann hätten wir eine ganz fatale Situation.“
Credits:
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Diesen Artikel so zitieren: Mangel an Pflegefachkräften: Gute Vorschläge gibt es genug – nur mit der Umsetzung hapert es - Medscape - 8. Dez 2021.
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